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Wir Genussarbeiter

Wir Genussarbeiter

Titel: Wir Genussarbeiter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Svenja Flaßpoehler
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Und wenn also Eros etwas begehrt – muss man dann nicht zugeben, dass ihm dieses Etwas fehlt ? Er also unvollkommen ist?
    An dieser Stelle bricht Sokrates den Dialog mit seinen Vorrednern ab und berichtet von einem lange zurückliegenden Gespräch mit seiner damaligen Lehrerin Diotima, die ihm das Wesen des Eros nahezubringen versuchte. »Eros«, so erklärte Diotima, »ist die Liebe zu allem Schönen, folglich ist Eros notwendig ein Philosoph.« Eros, der Philosoph, will das Schöne erlangen, und das heißt: den »dauernden Besitz des Guten«, wie Diotima weiter erläuterte – denn nur dieser Besitz mache den Menschen glückselig. Aber wie erreicht der Philosoph dieses Ziel? Was ist seine Methode? Nun: »Es ist dies die Zeugung des Schönen, des Körpers wie der Seele nach.«
    Diese Antwort ist natürlich bemerkenswert: Die Methode des Philosophen besteht in der Zeugung ? In einem Liebesakt also? Aber wie kann das sein? Widerspricht die körperliche Liebe der geistigen nicht zutiefst, wie uns die christliche Askese lehrt? Durchaus nicht, so Diotima. Vielmehr ist der Zeugung das Streben nach Schönheit wesentlich und insofern auch im Denken nachahmenswert – vereinigt sich der Mensch doch auf nachgerade natürliche Weise nur mit dem, was er schön findet: »So kommt es denn, daß, wenn das zeugungsbedürftige Wesen dem Schönen sich nähert, es froh gestimmt wird und in Wonne zerfließt und sich entlädt und zeugt. Trifft es aber auf Hässliches, dann zieht es sich finster und traurig in sich selbst zusammen, wendet sich ab, rollt sich zusammen, und zeugt nicht, sondern behält seinen Zeugungsstoff bei sich, an dem es schwer zu tragen hat.«
    Denken wir an dieser Stelle noch einmal kurz an den depressiv wirkenden Antonius in der Wüste: Der Heilige
hält, einsam in der Wüste lebend, den ›Zeugungsstoff‹ im wahrsten Sinne bei sich, denn ihm fehlt ein Gegenüber, mit dem gemeinsam er zeugen könnte. Zwar phantasiert er, wie wir gesehen haben, die Frau sehr wohl herbei, aber sie bleibt reine Vorstellung und damit eine Kopfgeburt, und so versinkt Antonius in Melancholie. Ganz anders dagegen Eros, der sich lustvoll mit einem Anderen vereinigt – und zwar sowohl im Liebes- als auch im geistigen Schöpfungsakt. Wenn er einen Gedanken hervorbringen will, dann tut er es nicht allein, sondern mit einem Gegenüber, genauer: mit einer schönen Seele, denn dem Hässlichen ist er abgeneigt. Sobald Eros mit dem Schönen in Berührung kommt, so Diotima, »gebiert und zeugt er, womit er schon lange schwanger ging, in seinen Gedanken ganz nur ihm angehörend, gleichviel ob anwesend oder abwesend, und in Gemeinschaft mit ihm zieht er das Erzeugte auf. So haben denn Genossen dieser Art eine weit innigere Gemeinschaft und festere Freundschaft miteinander als eine auf leiblichen Kindersegen gegründete; haben sie doch schönere und unsterblichere Kinder miteinander gezeugt.«
    Der Philosoph schöpft folglich nie nur durch sich selbst, sondern zeugt in der Beziehung zu einem Anderen fortlebende Gedanken – und dafür ist Sokrates selbst das beste Beispiel. Anstatt wie seine Vorredner über den Eros lediglich zu monologisieren, rekapituliert er sein Gespräch mit Diotima, mit der gemeinsam er zu seiner Erkenntnis gekommen ist. Sokrates weiß, dass er nie allein den Weg zur Wahrheit beschreiten kann, er weiß, dass er nicht über dieselbe Vollkommenheit verfügt wie ein Gott, sondern Philosoph ist. Sokrates ist ein Fragender. Ein Begehrender. Ein Mensch, dem etwas fehlt.
    Nachdem Sokrates seine Ausführungen beendet hat, betritt sein schwerberauschter Verehrer Alkibiades das Haus, geschmückt mit Bändern und Blumen, um Sokrates zu
umschwärmen. Kaum hat dieser die Avancen des Alkibiades abgewehrt, »erschien plötzlich eine große Schar von Nachtschwärmern an der Tür, und da gerade jemand hinausging, so fanden sie dieselbe geöffnet und stürmten nun geraden Weges herein zu uns und ließen sich nieder. So füllte sich denn alles mit Lärm und ohne jede Ordnung ward man gezwungen maßlos zu trinken.« Sokrates hält bei dem Gelage am längsten durch. Noch im Morgengrauen trinkt er mit Agathon und Aristophanes aus einem »großen Pokal«, »rechts herum«. Irgendwann schlummern seine Gesprächspartner ein, Sokrates selbst hingegen steht auf und geht, um in gewohnter Weise sein Tagwerk zu verrichten.
    Sollten wir uns demnach nicht eher, was das Denken und das Genießen angeht, an den Griechen orientieren als an den Asketen des

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