Wir Genussarbeiter
nicht haben. Dann also die Sex-hormone-markers-Theorie? »Sie besagt, dass ein Gesicht dann besonders attraktiv ist, wenn es Merkmale aufweist, die besonders typisch für das jeweilige Geschlecht sind, wenn also Frauen typisch weiblich und Männer typisch männlich aussehen.« Evolutionsbiologisch ergebe das durchaus Sinn, denn: »Frauen mit hohem Östrogenspiegel werden tatsächlich leichter schwanger als Frauen mit niedrigem … Eine Frau mit zierlichem Unterkiefer und vollen Lippen signalisiert damit der Männerwelt: ›Seht her, ich bin besonders fruchtbar, ich bin eine besonders wertvolle Partnerin!‹« Wenn aber allein die Fortpflanzung für die Schönheit entscheidend ist: Warum beurteilen wir dann ohne Probleme auch das Aussehen von Kindern? Kurzum, alle Ansätze sind letztlich nicht überzeugend, weshalb Gründl fleißig weitergeforscht hat an der Schönheitsformel. Und siehe da: Er fand sie in einer mathematischen Gleichung, die Beinlänge, Oberweite, Gewicht, Taillen- und Hüftbreite ins Verhältnis setzt. Um die Formel herauszufinden, befragte der Psychologe 60 000 Männer und Frauen. Mithilfe eines Computer-Morphing-Programms
sollten sie das Bild eines durchschnittlichen Frauenkörpers so lange bearbeiten, bis sie ihn am attraktivsten fanden. Darüber hinaus waren die Versuchspersonen aufgefordert, 240 vorgegebene Figuren hinsichtlich ihres Aussehens zu bewerten. Das Ergebnis der Studie: Die meisten Menschen finden Frauen mit langen Beinen, mittelgroßen Brüsten, einer schmalen Taille und einer mittelbreiten Hüfte schön.
Aber hätte Gründl nicht zu exakt demselben Ergebnis kommen können, wenn er einen Blick in die Vogue geworfen hätte? »Der herrschende Geschmack bezieht sein Ideal aus der Reklame, der Gebrauchsschönheit«, stellten schon Max Horkheimer und Theodor W. Adorno in ihrer Dialektik der Aufklärung fest. Tatsächlich sagt Gründls Studie eher etwas über die Macht der Bilder im Spätkapitalismus und die Monotonie der Massenkultur aus als über die Schönheit an und für sich. Was seine Versuchskaninchen reproduzieren, ist nichts weiter als eben jene Angelina-Jolie-Sexyness, wie sie kulturindustriell unentwegt vermarktet wird.
Und wie überzeitlich ist eine Schönheitsformel, die lange Beine und schmale Taillen zum Nonplusultra erklärt? Man muss ja nicht einmal bis in die Frührenaissance zurückkehren, in der Sandro Botticelli seine üppige Venus malte, um auf die historische Bedingtheit von Schönheitsidealen hinzuweisen. Noch im 20. Jahrhundert galten runde Formen als schön, nämlich im Nationalsozialismus und in den fünfziger Jahren, als Frauen vor allem als Mütter gefragt waren. Heute, wie im Übrigen auch in den feministisch bewegten zwanziger und sechziger Jahren, ist Schlankheit ›in‹: Die gesellschaftliche Befreiung der Frau von der Fessel des Patriarchats geht also offensichtlich einher mit einer Fessel ganz anderer Art, nämlich mit einem Zwang zum Schlanksein. Die Attraktivitätsforschung, die mit der Schönheitschirurgie Hand in Hand
arbeitet, verkauft diese Fessel als anthropologische Konstante: Schönheit heißt Arbeit, heißt Entsagung, heißt – und es ist tatsächlich so paradox, wie es sich anhört – Selbstkasteiung im Dienste des Selbstwertgefühls.
Unaufhörlich kreisen wir um den Körper, weil er in unserer Kultur nicht lediglich ein Mittel darstellt, um eine Gottheit zu ehren, sondern Mittel und Zweck zugleich ist. Mehr denn je erhoffen wir uns von ihm allein unser Glück, denn alles andere ist Metaphysik, und die haben wir seit der Aufklärung überwunden. Wenn der Körper perfekt, wenn er schön, wenn er gesund ist, dann, so lautet das materialistische Heilsversprechen, lösen sich alle Probleme von selbst. »Noch nie wurde der bloßen Tatsache, im ›richtigen‹ Körper zu stecken, so viel Bedeutung verliehen«, schreibt Christiane Zschirnt. »Er soll heute die Antwort auf Identitätskrisen, Leistungsschwächen, Selbstachtungsdefizite, Einsamkeit, Lieblosigkeit sein. All das wird verschwinden, so das große Versprechen, wenn wir erst im richtigen Körper stecken, dann kommen auch der richtige Partner, die richtigen Freunde, der richtige Job und das richtige Leben.« Ich muss nur die hässliche Falte unterm Kinn loswerden und dann fängt mein Leben endlich an! Diese Vorstellung, die durch jede Brigitte-Diät genauso gespeist wird wie durch die Angebote der Schönheitschirurgie, ist nun aber im Grunde eine nachgerade mythische – denn warum sollte
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