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Wir Genussarbeiter

Wir Genussarbeiter

Titel: Wir Genussarbeiter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Svenja Flaßpoehler
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sich rechtzeitig um Vorräte kümmerte, Überschüsse beiseite legte und Überfluss produzierte, war im Vorteil. Vorratskammern und Statussymbole sicherten in allen Kulturen der Welt das Überleben.« Die Schnäppchenjagd als Überlebensstrategie? Der globalisierte Schnäppchenkapitalismus, ein evolutionäres Konzept der Existenzsicherung? Ist das Verhalten, das Menschen bei Supermarkteröffnungen an den Tag legen, schlichtweg natürlich und damit womöglich sogar entschuldbar? Oder kommen wir, wenn wir uns der Gier nicht neurowissenschaftlich, sondern philosophisch nähern, zu einer plausibleren Erklärung des gegenwärtigen Konsumwahns?
    Die Gier richtet sich auf Dinge, mit denen man einen körperlichen Mangelzustand beheben will. Wer etwa fürchterlichen Hunger hat und einen großen Teller Nudeln vorgesetzt
bekommt, wird diesen gierig verschlingen. Doch auch Menschen, die eigentlich satt sind, können gierig sein. Ihre Gier ist die Gier nach mehr . Es handelt sich um eine Gier, die prinzipiell nicht zu befriedigen ist, weil sie immer wieder neu aufflammt. Kaum ist das Hühnerbein verschlungen, schon meldet sich wieder der Appetit. »Warum fresst ihr so viel? Ihr habt gar keinen Hunger!«, sagt eine junge Frau in Marco Ferreris Film Das Große Fressen aus dem Jahr 1973. Fassungslos schaut sie den vier Herren Marcello, Ugo, Philippe und Michel beim kollektiven Fress-Suizid zu und fügt resigniert hinzu: »So viel frisst nicht mal ein primitives Tier.« Während das Tier frisst, um satt zu werden, frisst der Mensch um des Fressens willen: Er frisst, weil er das Fressen selbst genießt. »Das Ideale war für mich immer, mit dem Essen anzufangen und nie wieder aufzuhören«, sagt Philippe in Ferreris Film und stirbt wenig später. Würde Ferriri seinen Film heute drehen, er würde ihn womöglich nicht Das gro∫se Fressen , sondern Das gro∫se Kaufen nennen. Neun Prozent aller Deutschen sind mittlerweile kaufsüchtig. Wie im Wahn konsumieren sie Dinge und stapeln sie zu Hause, meist ohne sie überhaupt noch auszupacken.
    Aber woher genau kommt sie denn nun, diese Gier nach dem Mehr? Eine mögliche Antwort liefert Georg Wilhelm Friedrich Hegel in der Phänomenologie des Geistes . Hegel meint: Ein gesundes Verhältnis zu den Dingen kann ich nur erlangen, wenn ich sie in ihrer »Selbstständigkeit« erfahre. Nur wenn ich mit den Dingen umgehe, wenn ich sie bearbeite, herstelle und zubereite, kann ich sie wertschätzen; und nur wenn ich die Dinge wertschätze, erschöpft sich meine Freude an ihnen nicht nur in ihrem Verzehr, ihrem Konsum, ihrer Vernichtung. Der Inbegriff eines solchen Menschen, der weiß, wie viel Arbeit in einem fertigen Produkt steckt, ist für Hegel der Knecht. Die Arbeit des Knechtes, so Hegel, »ist gehemmte
Begierde, aufgehaltenes Verschwinden«. Tagtäglich geht ein Knecht mit Nahrungsmitteln um, etwa bei der Ernte oder der Essenszubereitung, ohne sie sofort zu verschlingen. Er ist geübt in Triebaufschub, er widersteht der Lust, das Ding unmittelbar zu genießen. Stattdessen lenkt er diese Lust in Arbeit um, er verschiebt sie in die Bearbeitung des Gegenstandes. Sigmund Freud würde sagen: Der Knecht ›sublimiert‹ seine Lust in Arbeit. Und je größer die Hingabe ist, mit der er die Dinge formt, desto mehr wächst auch der Knecht an und in seiner Tätigkeit. In dem Mahl, das er mit seinen eigenen Händen hergestellt hat, steckt er selbst, und indem er sich mit seinem Werk identifiziert, strahlt es auf ihn zurück.
    Ganz anders dagegen der Herr. Der Herr bekommt von seinem Knecht die Dinge fertig bearbeitet vorgesetzt. Der Herr weiß nicht, was es bedeutet, ein Essen zuzubereiten, und deshalb kann er es auch nicht wertschätzen. Anders als der Knecht erfährt der Herr die Dinge nicht in ihrer Selbstständigkeit, und so bleibt ihm nur die Lust des Verzehrs, die Lust des Genusses, oder, wie Hegel sagt, die »reine Negation« des Gegenstandes. Der Knecht empfindet Befriedigung in der Herstellung des Dinges, der Herr dagegen nur in ihrer Zerstörung. Der Knecht produziert, der Herr konsumiert. Die Lust des Knechts bezieht sich auf Bleibendes, die Lust des Herrn dagegen auf Flüchtiges, Schwindendes. »Diese Befriedigung ist aber deswegen selbst nur ein Verschwinden, denn es fehlt ihr die gegenständliche Seite oder das Bestehen«, wie der Hegel-Interpret Alexandre Kojève schreibt. »Auch kann dieses ›Verzehren‹, diese müßige Lust des Herrn, die aus der ›unmittelbaren‹ (un-vermittelten)

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