Wir Genussarbeiter
Ideals optimieren will, unterwirft sich diesem Ideal und löscht das, was ihn als Individuum, als unverwechselbaren Menschen kennzeichnet, aus.
Erlösung zum Sonderpreis
Die Schnäppchenjagd
Es ist kurz vor Mitternacht, und es ist eng auf dem Berliner Alexanderplatz. 5000 Menschen stehen dicht aneinandergedrängt vor einem Gebäude aus altrosa Sandstein, ungeduldig mit den Füßen scharrend, und warten darauf, dass sich die Glastüren endlich öffnen. Dann, plötzlich, ein lauter Knall. Die Masse hat den Absperrungszaun vor dem Haupteingang umgestürzt. Schreie, dann ein Scheppern und Klirren, die erste Glastür geht zu Bruch. Die Menschen stürmen los, schieben sich durch die Eingänge, die notgedrungen geöffnet werden müssen, und stürzen sich auf preisreduzierte Laptops, Handys, iPods, Flachbildschirme und Stereoanlagen.
Abgespielt haben sich diese Szenen im Jahr 2007 während der Eröffnung des Berliner Einkaufszentrums Alexa – Szenen, die dazu nötigen, Max Webers berühmte These, der Geist des Kapitalismus sei wesentlich durch protestantische Askese und Sparsamkeit bestimmt, zu überdenken. Die vom Calvinismus geprägte asketische Lebensführung, so schrieb der Soziologe Anfang des 20. Jahrhunderts, bestehe in arbeitsamem, gottgefälligem Streben und striktem Sparzwang und habe auf diese Weise die Entwicklung des kapitalistischen Systems begünstigt. Neunzig Jahre später geraten die Massen selbst nachts in einen Kaufrausch, angefeuert durch Slogans wie Geiz ist geil , die zwar insofern auf die Grundsätze des asketischen Protestantismus Bezug nehmen, als sie – zumindest auf den ersten Blick – analretentives
›Beisichbehalten‹ anpreisen: Gib bloß nicht zu viel aus! Wenn du dein iPhone bei uns kaufst, sparst du 30 Euro! Dennoch ist der Geiz-ist-geil -Schnäppchenjäger ganz offensichtlich kein sparsamer Asket.
Das Wort ›Geiz‹ kommt vom Mittelhochdeutschen gīt[e] , und das heißt: Gier. Habgier. Der geizige Schnäppchenjäger kauft nicht aus Bedürftigkeit, und er ist auch nicht im eigentlichen Sinne sparsam. Vielmehr frönt er seiner Habgier unter dem Deckmäntelchen rationalistischer Investition – und manchmal geht er dabei sogar in buchstäblichem Sinne über Leichen. In New York kam 2008 ein Mitarbeiter der amerikanischen Supermarktkette Wal Mart ums Leben, weil er von einer kaufwütigen Masse zu Tode getrampelt wurde. Zu Beginn der Weihnachtssaison hatte Wal Mart die Preise heruntergesetzt, tausende Menschen drängten sich im Morgengrauen vor den Eingangstüren, drückten sie ein und überrannten den 34-jährigen Angestellten wie eine Herde Rinder bei einer Stampede.
Zerstört und getötet haben Massen schon immer. Der Unterschied ist nur, dass sie es früher aus existenzieller Not, religiösem Fanatismus oder für politische Ziele taten. In anderen Teilen der Welt ist das auch heute noch so. Hierzulande dagegen geraten die Massen für einen billigen Flachbildschirm außer Rand und Band. Die Gier nach heruntergesetzter Ware verbindet und verschwört die Menschen untereinander, Hartz-IV-Empfänger, Friseurinnen, Studenten, Rentner und Referendare, sie alle stellen sich den Wecker, um reduzierte Flachbildschirme, Waschmaschinen, Staubsauger und DVD-Player zu ergattern. »Im Grunde hat der Schnäppchenwahn die Menschen einander über alle sozialen Schranken hinweg nähergebracht«, schreibt die Historikerin und Wissenschaftsjournalistin Eva Tenzer in ihrem Buch Go shopping! »Am Ende
kann jeder den anderen verstehen, da alle vom selben Jagdfieber ergriffen sind, oszillierend zwischen rationaler Sparsamkeit und destruktivem Wahn.« Aber warum sind die Massen dem Schnäppchen derart verfallen? Weshalb verzichten sie um seinetwillen sogar auf wertvolle Stunden Schlaf? Wieso drängen sie sich mitten in der Nacht dicht aneinander wie Schafe, nur um einen Toaster zu ergattern?
Eva Tenzer bietet auf diese Fragen eine Antwort, wie sie derzeit häufig gegeben wird. Des Rätsels Lösung, meint sie, liege in unserem Gehirn: Es befiehlt uns ganz einfach, gierig zu sein. »Das menschliche Gehirn selbst liebt den Konsum und verschmäht die Askese«, schreibt Tenzer. »Das Belohnungssystem unseres Körpers schüttet Glückshormone nicht etwa aus, wenn wir Verzicht üben und den schönen Dingen entsagen, sondern vielmehr wenn wir Abenteuer in der bunten Warenwelt erleben.« Der Grund: Konsum habe sich in der Menschheitsgeschichte bewährt und also in unser Gehirn als Erfolgsrezept eingeschrieben. »Wer
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