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Wir Genussarbeiter

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Titel: Wir Genussarbeiter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Svenja Flaßpoehler
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verschieben, als den zunehmend absurderen Leistungsgedanken dieser Gesellschaft zu hinterfragen. »Die Kultur der Optimierung hat sich mittlerweile auf eine Art und Weise verselbstständigt, dass nicht mehr die Veränderung und der Versuch einer Verbesserung der Begründung bedürfte, sondern nun vielmehr begründet werden muss, dass eine Optimierung unterlassen werden kann«, schreibt der Medizinhistoriker Christian Lenk. »Die Kultur der Optimierung kennt keine eigentlichen Ziele mehr. Verbesserung ist als solche zum Selbstzweck geworden.«
    Und was ist eigentlich »optimal« in ästhetischer Hinsicht? Woher wissen Schönheitschirurgen, wie eine schöne Nase, ein schöner Busen, ein schöner Po aussieht? Ganz grundsätzlich gefragt: Was ist schön?
    Wenn man Immanuel Kant diese Frage gestellt hätte, hätte er vermutlich nur mit den Schultern gezuckt. Für ihn gab es kein Wesen der Schönheit, existierten keine objektiven Kriterien, die erfüllt sein müssen, damit ein Gegenstand als schön gelten darf. Ausschlaggebend für die Bestimmung des Schönen war Kant zufolge einzig und allein der subjektive Geschmack. Geschmack, so schrieb der Philosoph am Ende des 18. Jahrhunderts in seiner Kritik der Urteilskraft , ist das »Beurteilungsvermögen eines Gegenstandes oder einer Vorstellungsart durch ein Wohlgefallen, oder Missfallen, ohne alles Interesse. Der Gegenstand eines solchen Wohlgefallens heißt schön.« Damit wendete sich Kant gegen die klassizistische Vorstellung, dass man sich an den Schönheitsidealen der Antike zu orientieren habe, und brachte die moderne Auffassung des Schönen auf den Punkt: Schönheit existiert nur im Auge des (interesselosen) Betrachters.
    Im Zuge der künstlerischen Avantgarden des 20. Jahrhunderts, die mit dem ewig Rückwärtsgewandten endgültig
brechen wollten, geriet die Schönheit dann sogar als solche in Misskredit. Ob Expressionismus, Futurismus, Fluxus oder Wiener Aktionismus: Stets ging es darum, den sogenannten guten Geschmack als reaktionär zu entlarven und dem Alten etwas radikal Neues, Provozierendes entgegenzusetzen. »Ein Rennwagen, dessen Karosserie große Rohre schmücken, die Schlangen mit explosivem Atem gleichen, … ein aufheulendes Auto, das auf Kartätschen zu laufen scheint, ist schöner als die Nike von Samothrake«, schrieb etwa Filippo Tommaso Marinetti 1909 in seinem Futuristischen Manifest : »Schönheit gibt es nur noch im Kampf.« Ein halbes Jahrhundert später war es Theodor W. Adorno, der das bruchlose Kunstwerk als kapitalistisch-kulturindustrielle Affirmation deutete, dem das Verworfene, Ausgestoßene, »Nicht-Identische« entgegengesetzt werden müsse.
    Genau die Frage aber, die bis vor Kurzem noch als falsch gestellt gegolten hätte – Was ist schön? –, glauben Schönheitschirurgen und Attraktivitätsforscher beantworten zu können. Warum, so fragen sie, bleibt denn der (männliche) Blick gern an einem langen, schlanken Frauenbein, nicht aber an einem kurzen, dicken hängen? Widerlegt die Tatsache, dass manche Körper und Gesichter nun einmal anziehender wirken als andere, Kants abstrakten Schönheitsbegriff nicht nachgerade augenfällig? Und wenn doch bereits die Antike über eine Vorstellung vom »rechten Maß« verfügte und Pythagoras schon vor 2500 Jahren in der Lage war, rudimentäre Anfänge einer Proportionslehre zu entwickeln: Sollte es dann nicht heute, in Zeiten modernster Wissenschaftstechnik, möglich sein, endlich die universal gültige Formel für Schönheit zu knacken? »So schwer es auch ist, die Gründe für Schönheit herauszufinden, und so sehr auch die Meinungen der Forscher auseinander gehen, welche Eigenschaften wie wichtig sind – in einem
Punkt sind sich alle einig, nämlich dass Schönheit keineswegs subjektiv ist«, schreibt der Psychologe und Attraktivitätsforscher Martin Gründl. »Bei der Beurteilung, was ein schönes Gesicht ist und was nicht, sind sich die Menschen erstaunlich einig.« Zum Beweis führt er verschiedene empirische Studien an, die allesamt zeigen, dass bestimmte Gesichter spontan positiver beurteilt werden als andere. Aber warum? Viele Untersuchungen kämen zu dem Schluss, dass »verkindlichte« Frauen (männliche Schönheit, räumt der Autor ein, sei »kein leichter Fall«, weshalb er sie nur beiläufig in den Blick nimmt) mit gewölbter Stirn, großen, rundlichen Augen, einer kleinen, zierlichen Nase und rundlichen Wangen positiv bewertet würden; aber Baby-Pausbacken dürfen sie dann eben doch

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