Wir Genussarbeiter
nicht zuletzt den Verdacht, dass man es mittlerweile mit einer Dialektik der Selbstvervollkommnung zu tun hat: Das menschliche Streben nach Selbstperfektion schlägt mehr und mehr in Selbstzerstörung um.« Diese Dialektik gilt es im Folgenden zu durchdringen, eine Dialektik, die sträflich ausgeblendet wird, wenn man in der Zunahme an Möglichkeiten lediglich das Positive, nämlich die Seite des Fortschritts sieht. Was heißt es, dass heute jeder Mensch schön sein kann? Und zwar so schön, wie er will?
Die Möglichkeit, schön zu sein, stellt eine Verlockung dar, der kaum jemand wiederstehen kann. Das Glücksversprechen, das mit der Schönheit, respektive das Unglück, das mit Hässlichkeit verbunden ist, bringt nahezu jeden Menschen dazu, morgens kritisch in den Spiegel zu schauen und zu überlegen, wie sich das eigene Aussehen verschönern lässt. Die längste Zeit der Menschheitsgeschichte aber hatte die Verschönerung Grenzen: Man kam mit einem bestimmten Gesicht, mit einem bestimmten Körper zur Welt, und das war die Grundlage für alle Unternehmungen, das eigene Erscheinungsbild zu verbessern beziehungsweise, was etwas anderes ist, ihm einen unverwechselbaren Stil zu verleihen. Wenn aber nun der Mensch seiner Erscheinung alleiniger Schmied ist, die Grenze der Faktizität mithin nicht mehr existiert und er seinen Körper der eigenen Willkür anmessen kann – woher weiß er,
wann er genug geschmiedet, wann er genug angemessen hat? Gibt es überhaupt ein ›Genug‹ angesichts der Möglichkeiten, die zur Verfügung stehen? Ich kann immer noch ein Gramm abnehmen, immer noch eine Bauchfalte straffen, immer noch mehr konsumieren, und ich bin doch nie so schön, wie ich sein könnte . »Unser Problem ist nicht, dass wir zum Schönsein versklavt werden«, schreibt Christiane Zschirnt in ihrem Buch Wir sind schön . »Unser Problem ist eher: Wir stehen vor grenzenloser Freiheit. Wir blicken auf ein Meer von Möglichkeiten. Jede neue Creme, jede neue Jeans ist ein Versprechen: Das könntest auch du sein. Auch du könntest jung wirken, sexy Schuhe tragen, blonde Haare haben, dünn sein, größere Brüste haben, weiblicher wirken, reich aussehen. Du musst nicht so aussehen, wie du aussiehst! Du kannst dies sein! Du kannst das sein! Du musst dich nur entscheiden: kauf mich! Und handle jetzt: Investiere etwas mehr Zeit in deine Haare! Denke an deine Falten! Vergiss deine Problemzonen nicht!«
In der Konsumkultur ist die Schönheit ein kategorischer Imperativ: Sei schön! Von diesem Imperativ werden wir im Spätkapitalismus regelrecht bedrängt, denn schließlich lebt diese Gesellschaftsform ganz maßgeblich davon, dass wir uns nie schön genug fühlen. 120 Milliarden Euro setzt die Schönheitsindustrie jährlich um, und weil nichts ertragreicher ist als ein gestörtes Selbstverhältnis, sehen wir uns ständig mit virtueller Perfektion konfrontiert. Der Mensch des 17., 18. und 19. Jahrhunderts lebte noch nicht in einer Welt der Bilder, die überall das zu erreichende Optimum vor Augen führen; ja, selbst im 20. Jahrhundert ließ sich kaum ahnen, welche Möglichkeiten der Bild verbreitung und vor allem auch der Bild bearbeitung heute existieren. Nicht einen Pickel, nicht eine Falte haben die Models in den Magazinen, weil die Bilder mit technischen Mitteln retuschiert wurden.
Die Perfektion dieser Bilder stellt eine ständige Verheißung dar, die das konsumistische Begehren in Gang halten soll und gleichzeitig, gerade weil sie sich nie erfüllen kann, das eigene Minderwertigkeitsgefühl umso fester installiert. Die Publizistin Michaela Haas schrieb im Juli 2009 in einer Ausgabe des SZ-Magazins, das dem Thema Körperkult gewidmet war: »Das ist vielleicht das grundlegende Paradox des modernen Körperhasses. Es ähnelt zunehmend dem Rennen zwischen Hase und Igel: Mit jeder neuen Methode, einen echten Körper zu formen, zu operieren oder zu verändern, hat die Bildbearbeitungstechnik schon wieder neue Wege gefunden, prominente Gesichter noch schöner, noch glamouröser, noch übermenschlicher zu gestalten. Der eigene Körper wird zum Feind, weil er sich nicht so stark formen lässt, wie wir es von ihm fordern. Und die Schuld daran suchen wir bei uns.« Völlig verkrampft , so lautete der Titel des SZ-Magazins, und auf dem Cover zu sehen war ein Knäuel verkeilter Arme: Der moderne Mensch im verzweifelten Kampf mit sich selbst, weil das Imaginäre, das er ersehnt, unerreichbar bleiben muss. Erinnert das nicht an den Mythos des
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