Wir Genussarbeiter
Grundfesten der Existenz – die Herkunft, den Körper, das Sein – können und wollen viele Menschen nicht akzeptieren. Wir möchten unser Dasein fest in der Hand haben, und deshalb arbeiten wir seit jeher unermüdlich daran, möglichst jeden Bereich des Lebens der eigenen Handlungsmacht zu unterstellen – auch und insbesondere jene Bereiche, die bis vor einigen Jahrzehnten noch als unveränderbar galten.
Heute ist die medizinische Entwicklung tatsächlich schon so weit gediehen, dass weder das Geschlecht noch der Körper unveränderbare Gegebenheiten mehr sind, und auch die Psyche lässt sich durch Psychopharmaka und Medizintechnik bis zu einem gewissen Grad modifizieren. Vor allem aber eine Verfügung gibt es, die wir mit aller Gewalt unter unsere Kontrolle zu bringen versuchen. Unerträglich ist die Vorstellung, dass uns das Leben nur auf Zeit gewährt wird, und noch größer ist die Angst, dass es uns womöglich zu früh entrissen werden könnte. Schon bevor die menschliche Existenz überhaupt richtig beginnt, sind wir bemüht, den Tod zu bekämpfen, durch pränatale Diagnostiken sollen alle Eventualitäten in den Blick genommen, alle Gefahren gebannt werden, und auch am Lebensende fügen wir uns nicht einfach dem Unabänderlichen, sondern ergreifen jeden von ärztlicher Seite gereichten Strohhalm, um den Tod in letzter Sekunde womöglich doch noch abzuwenden. Natürlich sind die medizinisch-technischen Errungenschaften zunächst einmal begrüßenswert, ja lebensrettend – und doch führt unser Unwille oder auch die Unfähigkeit, bestimmte Dinge geschehen zu lassen, bisweilen zu ethisch fragwürdigen Entwicklungen. Wie etwa ist es zu bewerten, dass Eltern, die ein Kind mit Downsyndrom erwarten,
sich in 90 Prozent aller Fälle für eine Abtreibung entscheiden ? Und wie ist es zu beurteilen, dass todkranke Menschen mitunter noch zu aussichtslosen Therapien überredet werden? Ist Tun wirklich immer besser als Lassen?
Dass wir uns so sehr vor der eigenen Vergänglichkeit, vor dem Unverfügbaren fürchten und das Tun entschieden über das Lassen stellen, hat zentral mit der Stellung des modernen Menschen in der Welt zu tun. Als der Mensch noch unhinterfragt an Gott glaubte, war sein Leben Schicksal und sein Tod unauflöslich verbunden mit der Hoffnung auf ein heilsversprechendes Jenseits. Im Zuge der Aufklärung aber hat er – glücklicherweise – gelernt, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, und setzte an die Stelle der metaphysischen Bestimmung, die sein gesamtes Leben lenkte, die Selbstbestimmung. Dieser (notwendige und unwiderrufliche) Akt der Befreiung hatte allerdings eine Kehrseite: »Unsere Zeit hat alle substanziellen Bestimmungen von Familie, Staat, Geschlecht verloren; sie muß das einzelne Individuum ganz sich selbst überlassen, dergestalt, daß dieses im strengen Sinne sein eigener Schöpfer wird«, schreibt der Philosoph Søren Kierkegaard in seiner Schrift Entweder – oder . Sich jeder Bestimmung entledigend ist der Mensch frei; aber wer sagt ihm, wann er genug geschöpft hat? Wer zeigt ihm eine Grenze auf, wenn er seinen Körper einem utopischen Ideal anzupassen versucht? Und wer gebietet ihm Einhalt, wenn er von krankhaftem Ehrgeiz aufgefressen wird?
Das Einzige, was den Menschen noch halten kann, wenn er sein eigener Schöpfer ist, ist er selbst. Dergestalt zurückgeworfen auf sein eigenes nacktes Leben gemahnt ihn jede Unterbrechung seines Tuns, jedes Nichtkönnen, jedes Zögern und Scheitern schreckhaft an seine Ausgeliefertheit ans Nichts, an seine eigene Ohnmacht. Und um in diesen Abgrund nicht
schauen zu müssen, ist er unablässig produktiv, tätig – sich der Illusion hingebend, dass es sich bei seinem zwanghaften Schaffensdrang um einen Ausdruck von Freiheit handelt.
»Gerade auf das nackte, radikal vergänglich gewordene Leben reagiert man mit der Hyperaktivität, mit der Hysterie der Arbeit und der Produktion«, so der Philosoph Byun-Chul Han. Der Arbeitssüchtige, der Hyperaktive ist tätig aus Angst – aus Todesangst. Und seine verzweifelte Fluchtbewegung ist es, die ihn letzten Endes eben doch lähmt, die ihn, erschöpft und ermattet, gefangen hält in einem depressiven Zustand, den man heute Burnout nennt.
Dabei wäre es gerade das Unverfügbare selbst, das uns eine tiefe Gelassenheit schenken könnte. »Wer Gelassenheit hat, verzichtet, so weit er sie hat, auf eine Verfügung über das, worüber nicht zu verfügen ist«, meint Martin Seel. Anstatt dem Phantasma
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