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Wir Genussarbeiter

Wir Genussarbeiter

Titel: Wir Genussarbeiter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Svenja Flaßpoehler
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Gottes, den
erreichten Weltzustand der Verzweiflung auf die gerade noch gehofft wird. Darin liegt das historisch Unerhörte des Kapitalismus, daß Religion nicht mehr Reform des Seins, sondern dessen Zertrümmerung ist. Die Ausweitung der Verzweiflung zum religiösen Weltzustand, aus dem die Heilung zu erwarten sei.« Vereinfacht ausgedrückt: Das kapitalistische System gleicht einem Kind, das unentwegt ein Verbot überschreitet, um den Vater, der sich abgewendet hat, wieder für sich zu interessieren. Guck mal, Papa! Ich baue einen riesengroßen Haufen Scheiße, und wenn du mir das nicht sofort verbietest, steckst du mit drin. Das Kind, das so handelt, genießt die Verbotsübertretung; es weidet sich an dem Kitzel, nie genau zu wissen, wann und wie der Vater reagiert. Übertragen auf die Schnäppchenjagd heißt das: Wenn wir gierig nach Sonderangeboten jagen, wissen wir genauso wie das Kind, dass wir eine Grenze verletzen: Anders als das Tier hat der Mensch nie in einem unschuldigen Naturzustand gelebt; für ihn als Kulturwesen galt das Verbot, seine Triebe ungehindert auszuleben, von Beginn an, und es ist noch heute in uns lebendig. Der Kapitalismus hat uns nicht vom Verbot und auch nicht von der Schuld befreit; vielmehr genießen wir es wie Kinder, uns immer wieder aufs Neue schuldig zu machen, gespannt darauf wartend, was wohl passiert.
    Das Wort ›Schuld‹ muss übrigens in seiner ganzen Doppelsinnigkeit begriffen werden – denn tatsächlich erleben wir ja gerade eine Zeit, in der uns der ›Schuldenhaufen‹, der durch unsere Gier entstanden ist, buchstäblich über den Kopf wächst. Gemeint ist die globale Finanzkrise, der bisherige Höhepunkt kollektiver Gier. Ist die weitestmögliche Ausdehnung der Verschuldung also womöglich bereits erreicht? Hat die Finanzkrise den finalen Big Bang eingeläutet und den kapitalistischen Traum endgültig zum Platzen gebracht? Welches Zeitalter
könnte dann aber danach anbrechen? Benjamin nennt zwei Alternativen: entweder das Zeitalter des nietzscheanischen Übermenschen, der weder Gut noch Böse kennt, oder die Zeit des Sozialismus, die Karl Marx zufolge dann gekommen ist, wenn der Kapitalismus sich selbst zerstört hat. Allein, noch ist es nicht so weit. Denn der Gott, den wir auf dem Zenith der Verschuldung angesprochen haben, war Vater Staat, und der hat seine verlorenen Schäfchen schnell unter einem von ihm gesponserten finanziellen Rettungsschirm versammelt. Durch Milliardensubventionen ist die finanzielle Apokalypse also vorerst aufgehalten worden. Aber wer weiß: Wenn uns schon nicht die Finanzkrise zum Ziel führt, dann vielleicht der Klimawandel?
    Worauf wir allein achten müssen, ist, dass wir der Gier weiter frönen und uns zum Beispiel jede Menge subventionierter Neuwagen kaufen, Fleisch aus Massentierhaltung essen oder, das Fliegen ist ja heute so schön billig, noch mehr Kerosin in die Stratosphäre pumpen. Dann werden wir den Himmel irgendwann womöglich, wie es Benjamin formuliert, endgültig und im wahrsten Sinne des Wortes »aufsprengen« – und das, was sich dann über uns ergießt, wird kein Rettungsschirm mehr aufhalten können.

Lob des Lassens
Über das Nicht(s)tun
    Nehmen wir einmal an, es gäbe einen unsichtbaren Beobachter, der uns dabei zusieht, wie wir unseren Tag verbringen. Wie wir morgens eilig unsere Kinder in die Kita oder in die Schule bringen, mit besorgtem Blick auf die Uhr; wie wir nervös auf den Bus oder an der Ampel warten; wie wir mittags in der Kantine das Essen hinunterschlingen und gar nicht merken, was wir da eigentlich genau kauen; wie wir telefonieren und gleichzeitig E-Mails tippen; wie wir, obwohl wir abends nicht mehr wissen, wo uns der Kopf steht, trotzdem nicht zur Ruhe kommen und noch die Wohnung oder das E-Mail-Postfach aufräumen. Der unsichtbare Beobachter würde sich wundern: Warum um alles in der Welt sind diese Menschen so angestrengt? Für wen kämpfen sie sich ab? Glauben sie, dass sie irgendjemand irgendwann dafür belohnt? Dabei hätten sie doch, so phantasievoll und erfinderisch, wie sie sind, die einzig ihrer Spezies vorbehaltene Möglichkeit, das Leben zu genießen!
    Natürlich hätte der unsichtbare Beobachter recht: Nur der Mensch hat die Gabe, eine Existenz jenseits der Naturnotwendigkeit zu führen. Er kann sich sein Dasein einrichten, es gestalten, er kann sich bequeme Häuser bauen, vorzügliche Gerichte kochen, Wein trinken, er ist in der Lage, Maschinen zu bauen, die ihm das Leben erleichtern und

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