Wir Genussarbeiter
gibt noch eine andere Form des Lassens, die mit dem Handeln in höchstem Grade verwoben ist. Stellen Sie sich einen schönen, sonnigen Morgen vor, voller Tatendrang treten Sie nach draußen, schnuppern die frische Morgenluft, beobachten das Lichtspiel in den Blättern, spüren die Wärme, hören die Vögel… Ihr Tätigsein ist unauflöslich verknüpft mit einem Einlassen auf die Welt. Eindrücke strömen auf Sie ein, Gerüche gelangen durch die Nase in Ihren Körper, Ihre Augen folgen visuellen Reizen, ja, Ihr ganzer Körper ist durchflutet von Wahrnehmungen, denen er sich bereitwillig öffnet. Indem Sie sich einlassen – sei es nun auf einen schönen Morgen, eine Tasse Tee oder auch auf Ihre Arbeit –, erlangt Ihr Handeln Tiefe und Sinnlichkeit. Anstatt ein Wahrnehmungsobjekt wie ein Ding zu behandeln oder sich ihm gar zu verschließen, treten Sie zu ihm in Beziehung: Sie lassen sich von ihm bestimmen, verführen, durchdringen. »Wer sich auf etwas einlässt, lässt etwas zu; er lässt zu, nicht mit Bestimmtheit zu wissen, was ihm im Verlauf seines Handelns geschehen wird«, so bringt der Philosoph Martin Seel diesen Zusammenhang auf den Punkt. Sich einzulassen heißt, Kontrolle abzugeben, sich zumindest zeitweise zu überantworten an ein Anderes – und
vielleicht ist es genau dieses Einbüßen an Handlungsmacht, weshalb wir häufig lieber schnell über die Dinge hinweggehen, anstatt sie an uns heran-, ja, in uns hineinzulassen. Oft, allzu oft, fehlt aber auch schlichtweg die Zeit, um hingebungsvoll wahrzunehmen, aufzunehmen, zu verarbeiten. Bücher werden nur angelesen, E-Mails in Sekundenschnelle und ohne groß nachzudenken getippt und abgeschickt, zwischendurch ein eiliger Coffee to go aus dem Pappbecher, während man von einem Termin zum anderen hetzt.
Diese alltägliche Hektik verhindert nicht nur das Einlassen, das sinnliche Aufgehen im Stoff, sondern, damit zusammenhängend, auch kreatives Denken. Dem hyperaktiven Menschen kann sich kein ›Geist einhauchen‹, wie das aus dem Lateinischen abgeleitete Wort ›Inspiration‹ übersetzt lautet, denn er hat weder die Zeit noch die Muße, um sich inmitten einer »tiefen Langeweile« (Han) offen zu halten für eine Eingebung. Ein guter Gedanke ist im wahrsten Sinne des Wortes eine Gabe, er kommt nicht auf Knopfdruck, sondern er schenkt sich uns gerade dann, wenn wir ablassen und loslassen: wenn wir schlafen, schlendern, phantasieren, träumen. Erst wenn wir den Verstand dimmen und sich unser krampfhaftes, zielstrebiges Wollen in schläfrig-verträumte Entspannung auflöst, sind wir empfänglich für den Geist – oder, um es weltlicher auszudrücken, für die Botschaft des Unbewussten. Indem der Mensch träumt, bringt er Dinge zusammen, die eigentlich nicht zusammen gehören, und schöpft auf diese Weise Neues. Träumend überlistet er jene Zensur, die im Wachzustand sein Denken überwacht und es in den gewohnten Bahnen hält. Im Wachzustand denken wir logisch und im weitesten Sinne moralisch: Gegensätzliche, unvereinbare Dinge sind in unserem Kopf fein säuberlich voneinander getrennt, und wem moralisch Fragwürdiges in
den Sinn kommt, der maßregelt sich durch ein schlechtes Gewissen umgehend selbst. Träumend aber kann die Zensur umgangen werden, denn der Traum verschlüsselt seinen wahren Inhalt, ›versteckt‹ ihn gewissermaßen hinter den Traumbildern. Sigmund Freud spricht in diesem Zusammenhang von einem latenten und einem manifesten Trauminhalt: Der manifeste Trauminhalt ist der Traum, so wie er uns morgens im Gedächtnis ist. Und seine verworrenen Bilder weisen verschoben und verdichtet auf den latenten Trauminhalt hin – also darauf, worum es im Traum eigentlich geht. Verschiebung und Verdichtung: Das sind Freud zufolge die Werkmeister des Traums. Und sie sind auch die Werkmeister des kreativen Denkens. »Bei Leuten, die einen heftigen, aber unbefriedigten wissenschaftlichen Drang mit in den Schlaf nehmen, lockert sich nicht nur die Sexualmoral, sondern auch das wissenschaftliche Paradigma«, schreibt der Philosoph Christoph Türcke in seinem Buch Philosophie des Traums . Tatsächlich fällt Denkern und Denkerinnen ja häufig frühmorgens plötzlich ein, worum sie am Tag zuvor verzweifelt gerungen haben. Der Traum hat die Lösung gebracht, weil dieser die Regeln des Allgemeingültigen aushebelt und neuartige Verbindungen zulässt. Und um zu träumen, muss der Mensch noch nicht einmal unbedingt tief und fest schlafen. Häufig reicht schon ein
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