Wir haben keine Angst
eins lautet: Der Konjunktiv ist dem glücklichen Leben sein Tod.
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»Wie geht es Ihnen?«, fragt HerrG. Anna. Sie ist wiedergekommen. Es ist ihre zweite Sitzung.
»Nicht so gut«, lächelt Anna entschuldigend. »Müde. Ich bin total fertig.«
Anna hat seit Jahren ein Schlafproblem. Nachts ist sie hellwach. Sie kann sich nicht mehr entspannen. Alles in ihrem Kopf rast. Sie macht sich Sorgen, über alles. Was die Kollegen von ihr denken, ob sie gut genug ist in dem, was sie tut, ob sie dabei locker genug rüberkommt, individuell genug, kreativ genug, natürlich genug. Sie denkt tausend Sätze, die alle mit »Ich muss« beginnen.
Am schlimmsten ist es, wenn Anna früher Schluss machen kann und sich brav um elf ins Bett legt. Dann steht sie stundenlang auf und legt sich wieder hin. Macht das Licht aus und wieder an, fährt den Computer runter und wieder hoch. Manchmal trinkt sie in ihrer Verzweiflung zwischen ihren Schlafversuchen einen dieser blöden Ruhetees, dessen dämliche Sonne über den dämlichen lila Hügeln auf der Verpackung sie eigentlich schon so aggressiv macht, dass sie allein davon gleich wieder hellwach wird.
Anna ist abhängig von Baldrian-forte-Kapseln. Obwohl sie schon rein marketingtechnisch eigentlich nicht glauben kann, dass Dinge mit so einem trashigen Logo wie »Das gesunde Plus« wirklich ihr Wohlbefinden steigern könnten. Nach dem dritten Ins-Bett-Gehen reißt Anna sich die Schlafbrille von der Nase und legt sich das Lavendelkissen, das ihr ihre Mutter geschenkt hat, auf die Stirn. »Rest your eyes« steht darauf. Anna atmet tief ein und aus. Ganz, wie es ihr die CD zur progressiven Muskelentspannung nach Jacobson vorsagt. Das Kissen müffelt unerträglich nach Oma-Seife.
Anna fährt zum vierten Mal den Computer wieder hoch. »Insomnia« postet sie bei Facebook. Es ist 2:32 Uhr. Anna reibt sich die Augen, rauft sich die Haare. Schüttet den zweiten Ruhetee in der Spüle aus. Notiert noch ein paar SOFORT s auf ihrer To-Do-Liste. Und geht zum fünften Mal ins Bett.
Diesmal mit ihrem iPod. Annas allerletzte und einzige Geheimwaffe gegen sich selbst heißt Bibi. Die kleine Hexe ist die Einzige, die ihr jetzt noch Ruhe bringen kann. Ihre Lieblingsfolge, »Bibi und der Supermarkt«, kann Anna auswendig, seit sie vier ist. Früher lagen die Kassetten in dem Holzkassettenhalter, der neben ihrem Bett hing. Anna hatte sechzig Folgen. Jeden Abend durfte sie sich eine aussuchen. Schon damals konnte nur Bibi Blocksberg ihr beim Einschlafen helfen. Eigentlich hat sich in den letzten dreiundzwanzig Jahren also nicht viel geändert. Außer, dass Bibi Anna heute nicht aus einem Rekorder, sondern über iTunes in den Schlaf hext. Und dieser Schlaf kein friedlicher Kinderschlaf mehr, sondern ein erschöpft-erwachsener Komazustand ist. Aus dem Anna schon fünf Stunden später komplett fertig wieder aufwachen muss.
Wir, die wir wie Anna sind, wissen, dass es zu unserem kranken Stressleben eigentlich keine Alternative gibt. Wer einen Job wie wir machen, wer wie wir in so einer unsicheren Branche zu so unsicheren Zeiten die Leiter nach ganz oben hochklettern will, gibt die Work-Life-Balance gleich an der Tür zum Büro ab. Und wer sich dessen nicht bewusst ist oder sich nicht vorstellen kann, das in Kauf zu nehmen, der muss sich gar nicht erst bewerben.
Am Anfang fand Anna das alles noch heroisch. Sie schrieb heldenhaft-überarbeitete SMS – »Arbeite 15 Stunden am Tag, aber es rockt« –, die signalisierten, dass sie gar nichts mehr spontan unternehmen könne, weil sie ab jetzt zu denen gehörte, die full time gebraucht werden. Sie dopte sich über den Tag, der zu hektisch für Frühstück und Mittagspause war, mit Kindercountrys und Coke Zero. Manchmal huschte sie abends um neun zum Thailänder um die Ecke. Sie bestellte einen Glasnudelsalat to go, den sie wie die gestressten Anwälte in amerikanischen Filmen seufzend nach ein paar Minuten Gestocher mit den Stäbchen samt der Pappbox in den Müll neben dem Schreibtisch schmiss. Weil ihr der ganze Stress eben doch auf den Magen geschlagen hatte. Die ersten Wochen ging das jeden Tag so. Alles drehte sich viel zu schnell. Aber genau das hatte Anna immer gewollt.
Auf Dauer macht es sie krank. Anna lebt ungesund. Sie schafft es höchstens noch einmal die Woche zum Sport oder auch nur vor die Tür. Sie braucht immer mehr Eyecover, um ihre Augenringe zu kaschieren. Sie hat wieder angefangen zu rauchen. Wobei das eigentlich nur daran liegt, dass die
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