Wir haben keine Angst
Keiner von ihnen sagte etwas. Stattdessen nickten sie uns alle nur aufmunternd zu. Unsere Augen wurden größer, angsterfüllt blickten wir von einem Faden zum anderen. Was uns fehlte, war der jugendliche Leichtsinn. Oder ein wegweisender Wink, von irgendwoher. Doch das Schicksal schwieg beharrlich. Wir zuckten mit den Schultern. Wir wussten einfach nicht, was wir wollten. Und diskutierten deshalb lieber noch eine Runde weiter. Über das Für und das Wider dieses oder jenes Fadens, dieses oder jenes Knotens. Doch je länger wir überlegten, desto schwerer wogen die Fragezeichen, desto näher kam sie, die Panik. Bis sie uns die Luft zum Atmen nahm.
»Tu einfach das, was du am liebsten machst, was dir am meisten liegt«, sagte die Mutter in einer rührenden Mischung aus Optimismus und Hilflosigkeit. »Tu, was dein Herz dir sagt«, die beste Freundin, in einem Restanflug von pubertärem Pathos. »Verdien Geld. Geh in die Wirtschaft, werd Arzt oder Anwalt. Oder eben doch Lehrer, die werden immer gebraucht«, sagte der Onkel. »Geh ins Ausland, hier findest du eh keinen Job«, grummelte der Lehrer.
»Ich weiß nicht, was ich dir raten soll, wenn du nicht weißt, was du willst«, sagte der Vater mit ungewohnter Resignation in der Stimme und zunehmend düsterer Miene. Sein Stirnrunzeln war anders als damals, während der saure Regen fiel. Vielleicht war es aber auch nur anders, weil wir uns zur Abwechslung diesmal mitfürchteten.
Ironischer- und vor allem blöderweise war dieses eine Mal unsere Angst zur Abwechslung nur leider gar nicht die Reaktion, die die Stirnrunzler von uns erwarteten. Wenn wir bei den endlosen Konferenzen zur Lage unserer Zukunft nämlich allzu lange mit den Schultern zuckten, wurden die Mitglieder unseres Beraterstabs manchmal ungeduldig. »Warum guckt ihr so gequält? Ist doch toll, was ihr für Möglichkeiten habt!«, riefen sie erbost. »Mensch, nutzt die doch bloß!
Wir
hatten die früher nicht.«
Und es stimmte: Die Welt lag uns zu Füßen. Wir konnten überallhin gehen, wir konnten alles tun. Man würde uns bei allem unterstützen. Das Einzige, das wir zu tun hatten, war, unseren Mund aufzumachen und endlich zu sagen, was wir wollten. Wir sollten einfach nur unseren eigenen Weg finden. Den Weg, der uns glücklich machen und uns erfüllen würde.
Wir blieben stumm. In unserem Kopf ratterten die Optionen. Wir fühlten uns wie ein leeres Blatt Papier. Wie eine neutrale, passive, dumme Materialmasse. Dabei sollten wir gleich ein ganzes Drehbuch schreiben. Und dazu noch die Hauptrolle übernehmen.
Unsere erste, tiefe Schaffenskrise erlitten wir deshalb, noch bevor es richtig losging. Unseren ersten Panikflash bekamen wir nicht in der Praxis, sondern in der Theorie. Und zwar genau in dem Moment, in dem wir die Regeln unseres Films begriffen. Das Versprechen beim Dreh lautete: Alles ist möglich. Und der Fluch: Alles ist möglich.
Am liebsten wollten wir aus Angst das leere Storyboard zertreten, in den Müll schmeißen, uns umdrehen, wegrennen und den Kopf in den Sand stecken. Und obwohl wir heute schon so einige Szenen im Kasten haben, wegrennen würden wir manchmal immer noch ganz gerne. Denn der Druck war gekommen, um zu bleiben. Er ist immer noch da. Und er wird alles andere als weniger.
Vielleicht ist unser Tinnitus ja auch nur ein ganz einfacher Ohrwurm. Allerdings einer, der uns beunruhigenderweise mittlerweile schon seit guten fünf bis zehn Jahren nicht aus dem Kopf gehen will. Es ist ja eigentlich auch ein schönes Lied. »Hätte, wäre, könnte« lautet der Refrain, den der Chor unserer Verpassensängste in Endlosschleife wiederholt. »Bist du dir
sicher
? Bist du das
wirklich
?«, zischen und säuseln uns die Engelchen und Teufelchen, die Gesandten des ebenso mörderischen wie charismatischen Selbstverwirklichungsregimes, auf unseren Schultern sitzend zu. Bei jedem Schritt, den wir tun, bei jeder Entscheidung, die wir treffen, hinterfragen sie uns besessen: »Wäre es nicht doch sinnvoller gewesen zu bleiben? Wäre es nicht doch schlauer zu gehen? Wäre nicht die andere Wegbiegung doch die gewesen, die dich zum Ziel führt?« Sie singen das durchaus verführerisch, die fiesen Sirenen des Konjunktivs. Und wir hören ihnen gerne zu. Aber trotzdem sind sie es, die uns ständig alles vermiesen.
Schließlich hat MC Conditional uns noch jeden Ist-Zustand kaputtgegroovt. Gegen seine Chöre kann jedes Carpe Diem einpacken. Er setzt die Regeln unserer Grammatik. Deren Grundregel Nummer
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