Wir haben keine Angst
bräsige Praktikantin sich damit einschleimen wollte, sie die ersten Wochen auf eine Zigarette auf die Dachterrasse einzuladen.
Anna hat schon ewig kein richtiges Zeitgefühl mehr. Ihr Leben besteht aus einem Brei von Stunden und Tagen und Wochen, in denen sie zu nichts mehr kommt, was nicht mit dem Job zu tun hat, und die sie deshalb kaum noch voneinander unterscheiden kann. Montag, Dienstag, Mittwoch, das sind schon lange keine Kategorien mehr.
Nur die To-Do-Liste und der Jahresplan an der Wand im Büro sind Anhaltspunkte, wo auf der Zeitachse sie sich gerade befindet. »You are here!«, hat Anna aus Spaß an den Timer für sich und ihre Kollegen auf ein Post-it geschrieben. Die Augen des Smileys auf dem Zettel zwinkern.
*
»Wie geht es Ihnen?«, fragt HerrG. Bastian.
»Nicht so gut«, sagt Bastian. Er ist außer Atem, er ist gerannt, er wollte wenigstens dieses Mal pünktlich sein. Er hat es natürlich nicht geschafft.
»Müde«, röchelt er. »Ich bin total fertig.«
Bastian hat seit Jahren ein Schlafproblem. Er ist nicht nervös und es liegt auch nicht daran, dass er sich großartig Sorgen über irgendwas machen würde. Irgendwie verdaddelt er einfach nur die Zeit, er merkt nicht, wie sie vergeht, ganz plötzlich ist es dann wieder vier, fünf, sechs Uhr morgens, wenn er ins Bett geht. Nachts ist er einfach hellwach. Und er mag das ruhige Gefühl zu wissen, dass die Stadt um ihn herum schläft. Dass nach und nach alle Lichter in seiner Straße ausgeschaltet werden. Dass nur seines noch leuchtet. In Bastians kleiner Wohnung ist nachts jeder Raum hell erleuchtet. Die Anlage läuft, das Radio in der Küche, der Computer, der Fernseher. Bastian schlendert dann gerne durch seine Quadratmeter, spielt ein bisschen Computer, hört Musik, macht sich einen Nutella-Toast, trinkt ein Glas Cola, danach ein Bier, er raucht am offenen Fenster, lacht über die bescheuerten Radiomoderatoren. Er ist ganz zufrieden so. Nachts ist alles so schön ruhig. Er kann sich entspannen. Er kann alles auf sich zukommen lassen. Kann seine Gedanken durch den dunklen Kosmos fliegen lassen. Er hat das Gefühl, dass er frei ist. Freier als am Tag.
Blöd wird es nur, wenn es irgendwann hell wird. Mit der aufgehenden Sonne kommt Bastian schlecht klar. Er will noch nichts mit dem nächsten Tag zu tun haben. Er dreht schnell alle Geräte ab und putzt sich die Zähne. Danach wühlt er im Halbdunkeln in seiner CD -Kiste unter dem Bett. Tarzan, Karl, Klößchen und Gaby, Justus, Peter und Bob sind die großen Helden seiner Kindheit. Sie haben ihm immer beim Einschlafen geholfen. Vor zwei Jahren sind sie wiederauferstanden. TKKG und Die drei ??? sind die Einzigen, die ihn nachts zur Ruhe bringen können. Wenn überhaupt, dann schläft Bastian irgendwann im Morgengrauen über ihnen ein. Meistens bei einer seiner Lieblingsfolgen »Verrat im Höllental«, »Der Karpatenhund« und »Die flüsternde Mumie«, die er allesamt mitsprechen kann.
Wir, die wir wie Bastian sind, haben schon ewig kein richtiges Zeitgefühl mehr. Seit es nur noch den Berg zu bewältigen gibt, sind wir frei zu tun und zu lassen, was wir wollen. Keiner wartet morgens in Konferenzsälen auf uns, keinen interessiert es, ob und wann wir aufstehen, ob und wann wir das Haus verlassen. Ob wir erst nachmittags duschen oder die Vorhänge erst schließen, wenn alle anderen sie schon wieder öffnen. Montag, Dienstag, Mittwoch, das sind schon lange keine Kategorien mehr. Wir können alles auf unbestimmt verschieben, unsere Sätze müssen nie mit »Ich muss« anfangen.
Am Anfang fand Bastian diese freie Zeiteinteilung noch cool. Genau so hatte er sich Studieren vorgestellt. Er hat immer Zeit, er kann die Leute spontan in ihren Arbeitspausen zwischen Praktikum, Bibliothek und Seminaren abfangen, sie entspannen sich bei ihm. Bastian geht oft an die Uni, einfach nur in die Mensa, er isst mit seinen Leuten das billigste Essen, das mit dem »günstig und gern genommen«-Schild drüber. Für die anderen ist die Bratwurstschnecke das Mittagessen, für ihn eben das Frühstück. Alle finden das lustig.
Bastian belegt ständig neue Seminare, die er für seinen Abschluss nicht braucht. Und einen Portugiesisch-Sprachkurs, den er am allerwenigsten braucht. Es liegen einfach zu viele Streichhölzer herum, die angezündet werden wollen, zu viele Themen, die ihn reizen. Die mit seinem Abschluss inhaltlich aber leider nur am Rande was zu tun haben.
Je näher das Examen rückt, desto mehr freiwillige
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