»Wir haben soeben unsere Reiseflughöhe vergessen«
Anschnallzeichen längst leuchtet. Solche Fluggäste nerven fast so sehr wie die Leute, die »nur mal schnell vorbei« wollen, während wir gerade mitten im Service sind. Man muss schon extrem schlank sein, um sich zwischen Getränkewagen und Sitz hindurchquetschen zu können. Ein Glück, dass ich sehr gut darin bin, eine überschwappende Kaffeetasse schnell wieder unter Kontrolle zu bringen. Wenn ich Passagiere bitte, einen Moment zu warten, bis ich die Reihe vollends bedient habe, rücken sie mir dermaßen auf die Pelle, dass ich sie unweigerlich mit dem Hinterteil berühre, wann immer ich mich vorbeuge, um etwas aus dem Wagen zu nehmen. Nach dem dritten Mal drehe ich mich um und bitte sie, so freundlich zu sein und ein paar Schritte zurückzutreten. Seltsamerweise stoße ich mit meiner Bitte meist auf wenig Begeisterung.
Die erste Passagierin, die an diesem Frühflug nach Seattle an Bord gebracht wurde, trug eine dunkle Brille im Stevie-Wonder-Stil. »Jemand muss sie zu ihrem Platz begleiten«, erklärte der Gate-Mitarbeiter, der die alte Frau an Bord begleitet hatte. »Sie ist blind.«
»Farbenblind«, korrigierte die Frau.
Eigentlich gehe ich nicht gern auf Tuchfühlung. Braucht ein Passagier Hilfe, übernehme ich lieber die Reisetasche anstelle des Babys oder greife nicht nach der Hand, sondern nach dem Ellbogen. Doch an diesem Tag war es anders als sonst. Ich schwang mir ihre Louis-Vuitton-Tasche über die Schulter und legte meine Finger um ihre faltige Hand.
»Guten Morgen, ich bin Heather, eine der Flugbegleiterinnen in der First Class. Sie sitzen auf 6B, einem Gangplatz in der letzten Reihe der First Class.«
»Eigentlich sollte ich ja nach Vancouver fliegen, aber der Flug war überbucht, deshalb werde ich jetzt über Seattle umgeleitet«, sagte sie und drückte meine Hand ziemlich kräftig für jemanden, der so zerbrechlich wirkte. Mir lag auf der Zunge, dass auch ich eigentlich nach Vancouver hätte fliegen sollen, verkniff es mir aber in letzter Sekunde. Warum sollte sie das interessieren? Bei dem Tempo, mit dem wir vorwärtskamen, würde es noch mindestens fünf Minuten dauern, bis sie auf ihrem Platz saß, und ich wollte sie nicht ablenken.
»Zwei Reihen noch, dann haben Sie es geschafft«, lockte ich stattdessen.
»Sie sind ein sehr sensibler Mensch und würden Himmel und Hölle in Bewegung setzen, nur um es allen recht zu machen. Sie haben sich einen zuverlässigen Freundeskreis aufgebaut. Aber seien Sie vorsichtig, Schätzchen, Sie sind zu vertrauensselig. Jemand aus Ihrem unmittelbaren Umfeld wird Ihnen übel mitspielen.«
Ich stolperte über eine Falte im Teppichboden, fing mich jedoch wieder, bevor ich mit dem Gesicht voran stürzen und meine neue Freundin mit mir reißen konnte. Ich nahm mir vor, mir später aufzuschreiben, was sie gesagt hatte. »Sind Sie so eine Art Wahrsagerin?«
»Nein, das nicht, aber ich besitze die Gabe, Dinge zu sehen, und mache kein Geheimnis daraus.«
Mittlerweile hatten wir Reihe 6 erreicht. Ich stellte ihre Designertasche unter ihren Sitz und schob die Gurte zur Seite, damit sie sich hinsetzen konnte. »Was können Sie mir sonst noch sagen?«
»Tja, mal sehen. Sie haben Ihr Leben komplett umgekrempelt. Vor zehn Jahren waren Sie auf einem bestimmten Weg, aber dann haben Sie aus heiterem Himmel alles hingeworfen und ein völlig neues Leben angefangen. Und Sie haben jemanden zurückgelassen, der Ihnen sehr viel bedeutet hat.«
Brent! Mein On-Off-(mehr Off als On)-Freund aus Collegezeiten. Seit dem Vorfall in Costa Rica hatte ich ihn nicht mehr gesehen. Wir hatten dort mit meinem Buddy Pass Urlaub gemacht, doch dann war der Rückflug ausgebucht gewesen, so dass wir nicht mehr in die Maschine gekommen waren. Da ich am nächsten Morgen an einem Fortbildungsseminar teilnehmen sollte, hatte ich ziemliche Panik und kaufte daher kurzerhand zwei günstige Last-Minute-Tickets nach Panama, wo wir lange genug (eine Dreiviertelstunde) Aufenthalt hatten, um mit Hilfe meines Mitarbeiterausweises einen Gratisrückflug nach Miami zu bekommen. Ich hätte gleich merken müssen, dass etwas nicht stimmte, als ich am Flughafen von Panama die beiden Typen in Militäruniform sah. Sie warteten vor dem Süßigkeitenladen auf uns, ehe sie uns bis zum Gate folgten. Aber erst als wir auf amerikanischem Boden waren und auf die Zollkontrolle zusteuerten, dämmerte mir, dass jemand ernstlich in Schwierigkeiten steckte. Plötzlich gingen überall rote Alarmlichter an, und eine Sirene
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