»Wir haben soeben unsere Reiseflughöhe vergessen«
Freundschaft heraus. Sie müssen Geduld haben. Lassen Sie die Liebe wachsen. Ihr Leben wird sich von Grund auf ändern.« Sie gähnte und schloss die Augen. Erst beim Landeanflug auf Seattle wachte sie wieder auf. Ich glaube nicht an Wahrsager – ebenso wenig an Nicht-Wahrsager, die nur die Gabe besitzen, Dinge zu sehen –, doch das Gespräch mit der alten Dame ging mir nicht mehr aus dem Sinn. Nach der Landung machte ich einen strammen Spaziergang zum Pike Place Market, um ein bisschen frische Luft zu tanken, und bestellte mir einen Kaffee, mit dem ich mich nach draußen setzte. Normalerweise beobachte ich sehr gern Leute, aber an diesem Tag tat ich es nicht. Sollte mir tatsächlich ein Leben als Schriftstellerin vorherbestimmt sein, war es am besten, gleich mit dem Schreiben anzufangen. Das Problem war nur, dass ich keine Ahnung hatte, worüber ich schreiben sollte. Für den Bruchteil einer Sekunde überlegte ich, über meine Arbeit zu schreiben, aber das wäre viel zu langweilig. Wer würde schon lesen wollen, was ich tagtäglich erlebte? In diesem Moment kam mir eine Idee: Ich würde eine düstere Komödie über eine Serienkillerin schreiben, die als Flugbegleiterin arbeitet. Der Titel stand auch schon fest: Stewardeath .
Als Letztes hatte mir die Hellseherin prophezeit, dass sich mein Leben von Grund auf ändern würde. Und wie es sich veränderte! Dreißig Tage nach unserer Begegnung an Bord des Seattle-Flugs ereignete sich eine grauenhafte Katastrophe. Am Morgen des 11. September 2001 landete ich auf dem Flughafen von Zürich. Ich hatte Urlaub. Nach einem kurzen Nickerchen ging ich unter die Dusche, ehe ich mit noch nassem Haar den Fernseher anschaltete und mich auf mein Hotelbett setzte. Mit der Haarbürste in der Hand starrte ich voller Entsetzen auf den Bildschirm, wo gerade die zweite Maschine ins World Trade Center krachte. Stundenlang saß ich reglos da. So weit weg zu sein, machte es noch viel schlimmer. In diesem Augenblick war mir völlig egal, dass die Schweiz derzeit der wohl sicherste Ort auf der ganzen Welt war. Ich wollte einfach nur nach Hause.
Obwohl man mir gesagt hatte, als Mitarbeiterin einer Fluggesellschaft könne ich es mir sparen, zum Flughafen zu fahren und als Stand-by-Passagierin auf einen Platz zu warten, tat ich es und ließ mich auf die Warteliste setzen. Ganz offensichtlich hatten noch ein paar andere dieselbe Idee, denn am Ende stand mein Name auf Platz neunhundert-und-ein-paar-Zerquetschte. Ich hätte mir auch für 8000 Dollar ein reguläres Ticket in der Holzklasse mit garantiertem Abflug am 21. September kaufen können, wäre ich nicht wegen all der Hotelübernachtungen, Taxifahrten und völlig überteuerten Espresso- und Croissant-Frühstücke komplett pleite gewesen. Nachdem ich zwei Wochen lang jeden Morgen im Hotel ausgecheckt hatte und mit der Bahn zum Flughafen gefahren war, nur um abends mit Sack und Pack wieder in die Stadt zurückzukehren, konnte ich endlich einen Platz zurück in die Staaten ergattern. Ich landete auf einem texanischen Flughafen, da mein Flug nach Chicago storniert worden war. Statt nach New York weiterzufliegen, beschloss ich, erst einmal bei meinen Eltern zu bleiben. Ich war offiziell freigestellt, da New York – Vancouver, meine Stammroute, während der letzten knapp zwei Jahre, für den restlichen Monat ausgesetzt war und auch später wegen mangelnder Rentabilität nicht mehr in den Flugplan aufgenommen wurde. Auf diese Weise bekam ich etwas freie Zeit, die vielen meiner Kolleginnen nicht vergönnt war. Sie mussten wieder in die Luft, als wäre nichts geschehen. Natürlich gab es einige, die kündigten, wie meine Freundin und Ex-Mitbewohnerin Jane, die inzwischen verheiratet und schwanger war, aber die meisten meiner Freunde und Bekannten blieben dabei. Unvorstellbar, wie sie sich in dieser ersten Zeit vor jedem neuen Arbeitstag gefühlt haben müssen.
Wenige Wochen nach den Anschlägen trat auch ich wieder meinen Dienst an. Als ich vor meinem Apartmentkomplex in Queens aus dem Kew-Gardens-Wagen stieg, hing ein seltsamer Geruch in der Luft, der sich auch während der folgenden Monate nicht verflüchtigen sollte. Ich musste jeden Tag aufs Neue die schwarze Rußschicht wegwischen, die sich auf dem Fensterbrett meines Apartments gebildet hatte. Jeden Morgen standen neue Umzugskartons am Straßenrand, die darauf warteten, in einen Laster geladen zu werden. Jeden Tag zogen andere Nachbarn fort aus New York, in andere Städte, möglichst weit weg
Weitere Kostenlose Bücher