Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
»Wir haben soeben unsere Reiseflughöhe vergessen«

»Wir haben soeben unsere Reiseflughöhe vergessen«

Titel: »Wir haben soeben unsere Reiseflughöhe vergessen« Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heather Poole
Vom Netzwerk:
schlich und jedes Mal in einem Türrahmen verschwand, wenn ich glaubte, jemanden auf dem Flur zu hören. Ich hatte panische Angst, außerhalb des Fitnessraums in Shorts und T-Shirt erwischt zu werden, jedoch keine Ahnung, wie ich dorthin gelangen sollte, ohne gegen die Kleidervorschriften zu verstoßen.
    »Ladys!«, donnerte einer der Ausbilder, wann immer er das Klassenzimmer betrat. In seinen Glanzzeiten musste er eine echte Augenweide gewesen sein, doch die Jahre hatten ihren Tribut gefordert, vor allem auf seinem Kopf. Er war nahezu kahl. Seine Uniform machte ihn leider auch nicht schöner: Khakihosen und ein Poloshirt mit aufgesticktem Airline-Logo kombinierte er mit weißen Turnschuhen. Als wir seine Begrüßung das erste Mal hörten, saßen wir mit offenen Mündern da und warteten gespannt auf das nächste Wort. Doch es kam nicht. Stattdessen trat er hinter das Stehpult, ließ langsam den Blick über die Anwesenden wandern und sah jedem Einzelnen von uns lange und streng in die Augen. Irgendwann fragte ich mich, ob er vergessen hatte, was er sagen wollte. Doch wir sollten schnell herausfinden, was sein stoisches Schweigen zu bedeuten hatte. Wann immer wir in den darauffolgenden Wochen diesen Blick sahen, kramten wir hektisch einen Taschenspiegel aus unseren Handtaschen, überprüften unsere Lippen und zogen sie nach, obwohl es eigentlich gar nicht notwendig war. Bei Verfehlungen war eine sofortige Entschuldigung – und mit »sofort« meine ich »noch in dieser Sekunde« – fällig, sonst drohte die unwiderrufliche Verbannung aus dem Unterricht. Lippenstift war während der gesamten Ausbildung ein absolutes Muss. Er musste jederzeit getragen werden.
    »Warum eigentlich?«, fragte ein Mädchen, das es gewagt hatte, sich nicht an die diesjährige Empfehlung der Fluggesellschaft, einen klaren Rotton von Clinique, zu halten. Stattdessen trug sie eine Farbe, die, na ja, im engeren Sinne gar keine Farbe war, sondern eher eine Art schimmernder Nude-Ton. Mir gefiel er sehr gut, doch ich war weise genug, die Finger davon zu lassen.
    »Damit die Passagiere bei einem Notfall besser von Ihren Lippen ablesen können«, entgegnete unser Ausbilder nüchtern. Keiner von uns konnte sagen, ob diese Antwort ernst gemeint war.
    Am nächsten Tag erschien Miss Schimmer-Nude nicht zum Unterricht. Ihre abrupte Abreise war keine große Überraschung, allerdings wussten wir nicht, ob sie selbst das Handtuch geworfen hatte oder gefeuert worden war. Die meisten von uns verschwendeten auch keinen weiteren Gedanken an diese Frage. Na ja, mit Ausnahme von Georgia, die zu dem Schluss kam, dass Miss Schimmer-Nude der Frauenbewegung zum Opfer gefallen war. Sie nahm uns anderen das Versprechen ab, um jeden Preis zu verhindern, dass uns dasselbe Schicksal ereilte. Ich versprach es, obwohl ich mit dem wenig schmeichelhaften Rotton, der so gar nicht zu meiner hellen Haut passte, alles andere als glücklich war.
    Doch die Farbe des Lippenstifts sollte sich in den nächsten Wochen als meine geringste Sorge entpuppen – ganz im Gegensatz zum Zusammenleben mit meinem Cowgirl, das eine gewaltige Herausforderung für mich darstellte. Denn abgesehen von den zahlreichen Unterschieden zwischen ihr und mir, gehörte Linda zu den Menschen, die sich ständig für alles entschuldigten. Für absolut alles.
    »Entschuldigung«, flüsterte sie im Dunkeln, wenn das gedämpfte Piepsen ihres Weckers unter der kratzigen Bettdecke ertönte. Bis Unterrichtsbeginn waren es zwar noch drei Stunden, aber Linda war Frühaufsteherin. Als Nächstes entschuldigte sie sich dafür, dass sie die Decke zu laut zurückschlug, ehe sie barfuß über den abgewetzten Teppich tappte. Sie ging ins Badezimmer und schaltete das Licht erst an, wenn sie die Tür fest hinter sich geschlossen hatte, um mich nicht zu stören – ihre Worte, nicht meine. Denen sie stets ein »Entschuldigung« folgen ließ, auch wenn ich noch so oft beteuerte, sie brauche sich deswegen keine Sorgen zu machen.
    Lange bevor mein eigener Wecker klingelte, saß Linda mit zwei weiteren »reiferen« Frauen aus unserem Kurs in der Cafeteria, wo sie sich über den zu schwachen Kaffee, den trockenen Toast und die zu weich gekochten Frühstückseier ausließen, die uns die Fluggesellschaft jeden Morgen spendierte. Ich ging so gut wie nie frühstücken, mir fehlte schlicht die Zeit dafür. Na gut, in Wahrheit schaffte ich es bloß nicht, früh genug aus dem Bett zu kommen. Doch jede Minute Schlaf zählte, sonst lief man

Weitere Kostenlose Bücher