»Wir haben soeben unsere Reiseflughöhe vergessen«
Kurs aus etwa fünfzig Teilnehmern, größtenteils Frauen, bestand. Wie die meisten meiner zukünftigen Kolleginnen und Freundinnen hatte auch Georgia ihr ganzes Leben davon geträumt, eines Tages über den Wolken zu arbeiten, und sich durch nichts davon abbringen lassen, ihren großen Traum zu verwirklichen – nicht mal durch einen eifersüchtigen Freund, der, wie ich kurz darauf erfuhr, soeben nach North Carolina gezogen war.
»Ich hab zu ihm gesagt, dass wir uns im Handumdrehen wiedersehen würden, aber er war trotzdem ziemlich sauer. Männer!«, schnaubte Georgia und nippte an ihrer Diätlimo.
Sie war nicht die Einzige, der es so ging. Wir alle hatten Abschied nehmen müssen: von Freunden, von unseren Familien, von allen, die uns nahestanden. Ich war erst seit sechs Monaten mit Paul zusammen, und er hatte mich in meinen Karrierebestrebungen voll und ganz unterstützt – wahrscheinlich, weil er dadurch genug Zeit bekam, rund um die Uhr zu arbeiten und seine Landschaftsgärtnerei und seinen Laden für Gebrauchtwagenzubehör zum Laufen zu bringen. Offen gestanden hatte ich schon länger mit dem Gedanken gespielt, ihn abzuservieren.
»Aber er ist so süß, und ich will ihm nicht weh tun«, erklärte ich Georgia und verzog das Gesicht. »Auseinandersetzungen sind nicht so mein Ding.«
»Und genau aus diesem Grund hat dich die Airline engagiert, Süße.«
Damals war mir nicht klar, was Georgia damit meinte, aber sie könnte recht gehabt haben. In diesem Moment wusste ich nur, dass wir uns gegenseitig unsere Lebensgeschichte erzählten, obwohl wir uns erst seit zehn Minuten kannten. Schon jetzt erschien sie mir wie eine alte Freundin.
»Wir sollten uns ein Zimmer teilen«, schlug sie vor.
Ich war begeistert und grenzenlos erleichtert, hatte mich jedoch zu früh gefreut: Leider durften wir uns unsere Zimmergenossen nicht selbst aussuchen, die Fluggesellschaft hatte die Einteilung bereits im Vorfeld festgelegt. Wir vereinbarten, uns zum Abendessen wieder zu treffen, nachdem wir ausgepackt hatten. Wobei ich nicht ganz sicher war, wie lange sie dafür brauchen würde. Ich hatte das Gewicht pro Koffer auf exakt 34 Kilo reduzieren können, Georgias Verständnis von »leichtem Gepäck« war hingegen problemlos vereinbar mit acht gigantischen Trolleys, die ein Gewicht von drei Tonnen auf die Waage brachten. Und zwar jeder davon.
Ich nahm also meinen Zimmerschlüssel, setzte mein schönstes First-Class-Lächeln auf und bemühte mich, meine Koffer in den Aufzug zu verfrachten, ohne dabei jemanden niederzumähen – leider erfolglos. Zwei Stockwerke weiter oben trat ich vor die Tür meines neuen Zuhauses. Dann holte ich tief Luft und schob den Schlüssel ins Schloss. »Howdie! Ich bin Linda«, trompetete eine Stimme, kaum dass ich die Tür einen Spaltbreit geöffnet hatte.
Sprachlos stand ich da und musterte Linda von oben bis unten: hochtoupierte Haare, solariumgebräunte Haut, türkisfarbener Schmuck, ein superknapper Jeans-Mini, leuchtend blaue Cowboystiefel und farblich darauf abgestimmter Lidschatten in Neonblau. Meine Zimmergenossin, die Person, mit der ich die nächsten zwei Monate diese Besenkammer teilen würde, war ein Cowgirl. Na ja, das Wort »Girl« ist in diesem Zusammenhang vielleicht etwas irreführend, denn in Wirklichkeit sah Linda älter aus als meine eigene Mutter. Jiihaa!
»Freut mich. Ich bin Heather«, brachte ich endlich heraus und trat widerstrebend ein. Seufzend ließ ich mich auf ein knüppelhartes Einzelbett fallen. »Ich schätze, das hier ist meins.«
Linda zückte das Telefon, während ich mich ermahnte, nicht anhand von Äußerlichkeiten auf die inneren Werte zu schließen – was mir reichlich schwerfiel, als mein Blick auf die auf dem Schrankboden aufgereihten Cowboystiefel in sämtlichen Farben fiel. Während ich versuchte, meine Sachen in meiner Hälfte des winzigen Kleiderschranks zu verstauen, hörte ich Linda am Telefon darüber sinnieren, dass dies ihre zweite große Chance im Leben sei. Was für mich die Frage aufwarf, was beim ersten Mal schiefgelaufen sein mochte. Ich machte mich daran, meine 34 Kilo Business-Klamotten aufzuhängen, derweil Linda mindestens zehn verschiedenen Personen nacheinander beteuerte, wie sehr sie sie liebe und vermissen werde. Als sie schließlich auflegte, glaubte ich zu sehen, wie sie sich eine Träne abwischte.
»Alles in Ordnung?«, fragte ich.
Sie lachte nervös. »Tut mir leid. Das waren meine Enkelkinder. Ich vermisse sie so.«
Enkelkinder?
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