Wir in Kahlenbeck: Roman (German Edition)
doch , daß er glaubt. Vielleicht reicht das für die Größe eines Senfkorns. Für einen Punkt im Unterschied zu keinem Punkt. Er bewegt die Lippen: › Unsere Mittlerin , unsere Fürsprecherin: Kannst du nicht bewirken , heilige Maria , Mutter Gottes , daß ein Mädchen , das zu mir paßt und dem ich gut wäre als Freund , sich mir zuwendet. Oder Regina. Es ist mein einziger Wunsch. Du bist gebenedeit unter den Frauen und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes , Jesus , den du , o Jungfrau , zu Elisabeth getragen hast. ‹
Er weiß nicht , wie viele , den du , o Jungfrau , zu Elisabeth getragen hast , er gebetet hat , ohne mit dem Herzen dabei zu sein und ohne die Perle zu wechseln. Er sollte von vorn anfangen , zumindest mit diesem Gesätz. Streng genommen kann er mit allem von vorn anfangen. Es würde nichts nützen , weil es auch nach einem Neuanfang kein bißchen besser ginge. Er schaut auf das Silberkreuz , das die Enden der Schnur zusammenfaßt. Betrachtet den ausgemergelten Körper des Herrn , der lebensecht modelliert ist und gerade so groß wie eine Filzstiftkappe.
› Jesus , Sohn Gottes , erbarme dich unser. ‹
»Bart und ich gehen schon mal« , flüstert Deggendorf. »Wir treffen uns nachher im Gasthaus Meier.«
Carl nickt.
Um halb fünf sind alle ins Gasthaus Meier zu Würstchen mit Kartoffelsalat eingeladen , weil Markus Meiers Eltern wollen , daß ihr Sohn beliebter wird. Voriges Jahr sind sie an seinem Geburtstag mit ihrem Lieferwagen angerückt und haben im Gruppenraum ein Schweinshaxenessen für die Klasse veranstaltet. Es war das beste Essen , das es je in Kahlenbeck gab , aber herausgekommen ist , daß der fette Meier seitdem erst recht als Schleimer gilt , der seine Eltern dafür bezahlen läßt , gemocht zu werden.
Wenn Carl fertig ist mit dem Rosenkranz , den er um der Liebe willen gelobt hat , wird er allein durch die Stadt gehen , obwohl sie Kleingruppen bilden sollen. Er kennt sich aus in Mariendorn. Seine Hauptsorge ist , Bart und Deggendorf könnten finden , daß er es übertreibt mit der Frömmigkeit. Vielleicht ist er ihnen peinlich wie Opgenhoff vom Schülergebetskreis »Laudate« , der angeblich sogar seine Hausaufgaben mit › In nomini patris et filii et spiritui sancti ‹ beginnt.
Carl sieht sich selbst nicht als fromm an.
› … den du , o Jungfrau , zu Elisabeth getragen hast. ‹
Er war sieben , als er zum ersten Mal auf die Wallfahrt gegangen ist. Seit Tante Ria ihm die Geschichte der Marienerscheinung erzählt hat , wollte er dorthin: Am frühen Morgen des 7. Mai im Jahr 1801 führte Gerrit Winkels , der neunjährige Sohn des Tagelöhners Adalbert Winkels und seiner Frau Maria , die Kuh , die der kostbarste Besitz der Familie war , am Waldrand nahe der kleinen Bauernsiedlung Mariendorn zum Grasen. Gerrit fror , denn die Winterkälte hielt sich lange in diesem Jahr und seine Kleider waren zerlumpt. Plötzlich sah er wenige Meter vor sich über einem Felsen ein helles , überirdisch schönes Licht. Aus diesem Licht sprach eine Stimme , so liebreizend , daß Gerrits Herz allein von ihrem Klang mit Freude erfüllt wurde: »Hab keine Angst , Gerrit , mein Kind , ich bin die Beschützerin der Armen.«
Während sie sprach , sah der Junge , wie ihre reine und vollkommene Gestalt immer deutlicher aus dem Glanz der himmlischen Herrlichkeit hervortrat , bis sie ihm von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand: »Ich bin gekommen , um die zu trösten , deren Herz rein ist , und die zu ermahnen , die in Sünde verstrickt sind.«
Im trauten Zwiegespräch eröffnete die Jungfrau Maria ihm Geheimnisse über die Zukunft , die er nur dem Bischof persönlich weitergeben durfte , Weissagungen , die mit bevorstehenden Umwälzungen und Kriegen zu tun hatten und später allesamt in Erfüllung gingen. Bevor sie entschwand , trug sie ihm auf: »Bauet mir über dieser Quelle ein Bethaus und fleht ohne Unterlaß um den Beistand des Heiligen Geistes , damit ihr in den Schrecken der kommenden Zeit nicht den Glauben verliert. Das Wasser aber soll euch eine Stärkung sein in jeder Not und Gefahr.«
Tatsächlich sprudelte dort , wo sie gestanden hatte , ein Rinnsal aus dem Felsen. Das Wasser war klar und rein und von beinahe süßem Geschmack. Die Quelle bewies , daß das , wovon Gerrit zunächst seinem Beichtvater , dem Pfarrer Konrad Eykendorp erzählte , wahrhaftig eine Erscheinung der Heiligen Jungfrau und nicht etwa die Phantasterei eines verwirrten Kindes gewesen war. Der Bischof
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