Wir in Kahlenbeck: Roman (German Edition)
der Hand schlagen wollte. Das macht er manchmal. Asse ist ein Brecher , kein Jüngerer hat eine Chance gegen ihn. Diesmal läßt er sich auf den Stuhl zurückfallen , ruft Carl nach: »Eisabzug morgen. Beide Kugeln.«
Carl liegt nichts am Eis. Es schmeckt nicht besonders , auch wenn der Präses bei Führungen von Eltern und Neuzugängen so tut , als ob allein das Eis »nach dem Geheimrezept unserer Schwestern« , das es zweimal pro Woche als Nachspeise gibt , Grund genug wäre , ins Gregorianum einzutreten.
Carl rempelt Gerd , wird von Gerd gerempelt , läßt Gerd den Vortritt.
Er kreuzt den Blick des Oberchorherrn IOANNIS DURBACHENSIS , dessen Portrait hoch oben über dem leeren Servierwagen hängt. Seit 1763 schaut er zwischen rotem Birett und hermelinbesetzter Mozetta Mitbrüdern und Zöglingen zu. Obwohl er albern aussieht , lacht niemand über ihn. Er verkörpert das Auge Gottes , dem nichts entgeht.
Carl öffnet die Schiebetür. In dem holzvertäfelten Gang , der zur Küche führt , staut sich eine Mischung aus Spülstraßendunst , Wurstsud , Schweiß. Ihm vergeht der letzte Rest Appetit. Rechts bricht Jesus , wie Rembrandt ihn gemalt hat , den Emmaus-Jüngern das Brot , auf Leinwand gedruckt , in goldenem Schnitzrahmen , als wäre es das Originalbild. Da gingen ihnen die Augen auf , und sie erkannten ihn.
Aus dem nächsten Speisesaal kommt ein Quartaner gerannt. Carl spürt ein Zucken im Fuß. Statt ihm ein Bein zu stellen , stößt er ihn so , daß der Quartaner gegen die Wand prallt. Carl faßt ihn an der Schulter , reißt ihn herum , schubst ihn hinter sich: »Respekt vor den Älteren – schon mal was davon gehört? Wer bist du überhaupt?«
»Ralf.«
»Hat dich jemand nach deinem Namen gefragt?«
Ralf sieht aus , als ob er gleich heult.
Draußen leert die schiefe Demutsnonne Walburga Abfälle in die Schweinetonne und hinkt die Stufen zum Kücheneingang hinauf. Ein Abiturient knallt die Tür der Telephonzelle zu , zieht seinen Tabaksbeutel aus der Brusttasche , beginnt sich eine Zigarette zu drehen. Abiturient müßte man sein oder wenigstens Primaner. Dann wäre man selbst derjenige , der Eisabzug erteilt. Man bewegte sich über das Gelände wie ein Bestimmer.
Carl biegt um die Ecke , sieht die Schlange vor der Nachschlagausgabe , packt erneut das Angstkind Ralf , diesmal mit festem Griff in den Nacken , schiebt er es vor sich in die Reihe , sagt: »Das kapierst du jetzt nicht. Du wirst gerade mit einer höheren Intelligenzform konfrontiert.«
Eine erbärmliche Kreatur , die sich vor ihm windet , als ob sie es darauf anlegt , zertreten zu werden.
»Das wird dir noch öfter im Leben passieren. Sei froh: Diesmal verschont sie dich.«
Die Kreatur schaut ihn nicht an.
»Sag › Danke ‹ .«
Nickt bloß.
»Ich hör’ nichts.«
Carl hat keinen Hunger , jedenfalls nicht auf das , was es gibt. Es ist ihm egal , ob er an der Essensausgabe etwas bekommt. Zwischen dem , was er will , und dem , was er tut , besteht keine Verbindung. Er fragt sich zum dreihundertvierundzwanzigsten Mal , wer die widerwärtige Idee hatte , flüssiges Ei über Bratkartoffeln zu gießen. Entweder ist es glibberig wie durch den Rachen gesaugte Rotze oder trocken gebacken mit der Konsistenz von Metall.
Recke tritt aus dem Aventin-Saal , Carl läßt ihn ebenfalls vor.
»Ekelhaft , der Fraß wieder heute.«
»Die kochen nicht für Menschen« , sagt Recke , deutet auf die Demutsnonne Walburga , die draußen die nächste Ladung in die Tonne kippt: »In Wirklichkeit ist das hier eine Tierversuchsanstalt , und wir sind die Vorkoster der Schweine.«
Es wäre regelrecht gut , wenn es nichts mehr gäbe , unabhängig davon , welches der Küchenmädchen an der Ausgabe steht. Asse , dessen Geschmackssinn verkümmert ist , hat immer Hunger. Er kennt keine Sättigungsgrenze. Wenn Carl die Schüssel leer zurückbringt , ist Asse die Laune für den Rest des Abends verdorben. Sollte noch etwas da sein , wäre es am besten , wenn er es ihm möglichst spät brächte , dann stünde Asse vor der Wahl zwischen zwei Übeln: Er kann weiteressen , müßte dafür aber kostbare Freizeit im Speisesaal verbringen , oder er verzichtet und geht hungrig aufs Zimmer. Es sei denn , er hätte es auf ein Küchenmädchen abgesehen. Zehn Minuten nach dem Ende des Abendessens kommen sie , um die Tische für das Frühstück zu decken. Wenn man Interesse hat , kann man sich den Teller kurz vor dem Abklingeln vollladen , sich nach dem Gebet wieder hinsetzen ,
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