Wir in Kahlenbeck: Roman (German Edition)
erklärte bereits nach wenigen Monaten , daß es sich bei der Begegnung des Knaben Gerrit Winkels mit der Gottesmutter im Wald nahe Mariendorn tatsächlich um ein übernatürliches und verehrungswürdiges Ereignis gehandelt habe , das aller Welt als eine Barmherzigkeit offenstehe.
Seitdem riß der Pilgerstrom nicht ab , und ebensowenig wie die Quelle zu sprudeln aufhörte , versiegte die Wunderkraft des Ortes. Äbte , Erzbischöfe , Kardinäle aus aller Welt kamen , um der Jungfrau von Mariendorn die Ehre zu erweisen. Am letzten Heimfahrtswochenende hat Tante Ria Carl einen Artikel in der Pilgerzeitschrift gezeigt. Darin hieß es , daß der Papst sich über das Anliegen der Mariendorner , endlich die Seligsprechung von Gerrit Winkels zu erwirken , sehr positiv geäußert habe. Angeblich plante er sogar , selbst Mariendorn zu besuchen.
Eine Zeitlang hat Carl sich , wenn er allein durch die Gegend zog , gewünscht , auch einer solchen Erscheinung für würdig befunden zu werden. Er hat darum gebetet und sich im selben Moment geschämt. Trotzdem erschrak er jedesmal , wenn unerwartet Sonnenstrahlen durch die Baumkronen brachen oder wenn er von einem spiegelnden Stück Abfall im Unterholz geblendet wurde.
Am Vorabend der Wallfahrt hat Tante Ria ihm immer Kartoffelpuffer gebraten , und er durfte neben ihr in dem mächtigen Doppelbett schlafen , wo bis vor zwanzig Jahren ihr Mann gelegen hatte. Am nächsten Morgen standen sie um sechs an der Bundesstraße und warteten auf den Pilgerbus. Manchmal dauerte das Warten lange , und das Wetter war schlecht , so daß er fror , wie Gerrit Winkels in seinen zerrissenen Hosen vor fast zweihundert Jahren beim Hüten der Kuh. Carl war das einzige Kind zwischen älteren , alten und uralten Frauen , und außer Pastor Hünermann und dem Fahrer gab es keine Männer im Bus.
Von der Gnadenkapelle aus sind sie in die Basilika gegangen und haben der heiligen Messe beigewohnt , die in Mariendorn auch an Werktagen feierlich ist wie zu Hause nur an Hochfesten. Danach sind sie in einer Pilgergaststätte eingekehrt , und Carl durfte sich aussuchen , was er essen wollte. Er bestellte immer Zigeunerschnitzel mit Pommes frites. Anschließend wohnten sie einer Dankandacht mit Aussetzung des Allerheiligsten in der Lichterkapelle bei , und am Ende zogen alle gemeinsam Meerstern ich dich grüße singend zur neu errichteten Zapfstation für die Pilger , um so viel Wasser , wie sie eben tragen konnten , aus der gesegneten Quelle abzufüllen. Allen , die zu Hause hatten bleiben müssen , wurde Wasser aus Mariendorn mitgebracht.
› …Jesus , den du , o Jungfrau , in Bethlehem geboren hast. ‹
Er hat Hunger. Trotz der Käsestullen , die bei der Ankunft verteilt wurden. Hunger und Durst – Lust auf Cola .
Bruder Walter und seine Tutoren , Eging und Bronkhorst , marschieren durch den Mittelgang vor in die erste Reihe , knien sich in die Bank direkt beim Tabernakel , als hätten sie nie das Evangelium gehört , in dem Jesus die Pharisäer zurechtweist , weil sie in der Synagoge die vordersten Plätze beanspruchen und besonders lange Gebete verrichten , damit die Leute ihren Eifer für Gott bewundern.
Streng genommen verhält Carl sich keinen Deut besser. Er haßt sich für seinen Hochmut , verabscheut seine Verachtung. Er macht sich Gedanken über anderer Leute Splitter , wo er sich um den Balken im eigenen Auge kümmern sollte. Es gäbe genug Möglichkeiten für ihn , sich selbst zu verbessern: Zum Beispiel wäre es dem Pilgerstand deutlich angemessener , zur Quelle zu gehen , von dem heiligen Wasser zu trinken und als Dank eine Spende in den Opferstock zu werfen , statt sich für teures Geld Cola zu kaufen. – Präses Roghmann sagt , daß Cola , ganz gleich , ob Coca oder Pepsi , eine teuflische und ätzende Mixtur ist , die den Magen zerstört. Wer es nicht glauben will , soll einen Pfennig in ein Glas Cola werfen und vierundzwanzig Stunden warten. Danach wird er feststellen , daß der Pfennig sich vollständig aufgelöst hat.
Bruder Walter und die Tutoren sind schon wieder fertig mit ihren Gebeten. Bruder Walter nickt ihm im Vorbeigehen zu. Carl tut so , als ob er ganz vertieft wäre , dreht sich dann aber um und schaut ihnen nach. Er sieht , wie sie sich flüchtig bekreuzigen und nach draußen treten. Das Licht , das hereinfällt , ist so grell , daß Straßencafés und Imbißbuden auf dem Platz in blendendem Weiß verschwimmen. Carl ist der letzte aus Haus Quirinal , der noch hier sitzt. Er
Weitere Kostenlose Bücher