Wir in Kahlenbeck: Roman (German Edition)
Stunde versuchen die Ärzte in einer Notoperation sein Leben zu retten. Den letzten Meldungen zufolge ist sein Zustand äußerst kritisch. Wir versammeln uns um halb neun zur Rosenkranzandacht in der Kirche , um für den Heiligen Vater zu beten. ‹
Gleich anschließend sind Asse und Gerster zu Bruder Walter gegangen und haben gefragt , ob die Andacht freiwillig ist , wie sonst auch , oder ob sie wegen des verletzten Papstes teilnehmen müssen. Sie haben gefragt , weil im Fernsehen ab acht das Europapokalendspiel aus Düsseldorf übertragen wird.
Bruder Walter hat nur den Kopf geschüttelt. Er konnte nicht glauben , was er hörte. Asse und Gerster sind achselzuckend aus dem Speisesaal gegangen und haben sein Kopfschütteln dahingehend gedeutet , daß sie wegbleiben können.
Schmerz und Schuld und Furcht. Vor dem Entsetzlichen , vor dem Grauen , das jede Vorstellungskraft sprengt. Es wird kommen. Mit Gewißheit wird es kommen. Selbst von denen , die nicht glauben , geben viele zu , daß die Zeit des Menschen auf diesem Planeten bald vorbei ist: Entweder wird er unbewohnbar sein oder Russen und Amerikaner löschen mit der unvorstellbaren Gewalt Tausender Atomraketen , jede einzelne mit der x-fachen Sprengkraft der Hiroshima-Bombe , alles Leben aus. Wenn überhaupt etwas den Weltenbrand übersteht , die monatelange Dunkelheit unter staubfinsterem Himmel , werden es primitive Insekten sein , unterirdisches Gewürm , Bakterien. Sollte es wider Erwarten Menschen gelingen , sich über den Tag zu retten , wird es ihnen nichts nützen: Wenn die Reichen und Mächtigen schließlich aus ihren atombombensicheren Stahlbetonbunkern gekrochen kommen , weil die Vorräte aufgebraucht sind , werden sie nichts Eßbares finden. Verkohlte Kadaver über endlos graue Ebenen verstreut , die einst Weiden waren. Aschehaufen , wo Kornspeicher standen. Kein Schluck Wasser , der nicht die Speiseröhre verätzt. Dann müssen sie erkennen , daß der Aufwand , den sie getrieben haben , um ihr Fleisch zu retten , nur dazu gedient hat , ihnen Elend und Qual zu verlängern. Dann wird man zu den Bergen sagen: Fallt auf uns! , und zu den Hügeln: Deckt uns zu! So ist es angekündigt , wenn die Menschheit nicht von ihren bösen Taten abläßt. Doch sie ist weiter entfernt von Reue als je.
Nicht einmal heute wird eine größere Anzahl Schüler zum Rosenkranz in die Kirche kommen , um für das Leben des Heiligen Vaters zu beten. Selbst im Gregorianum ist der Papst den meisten so egal wie Großkreutz das Schicksal der Welt , solange seine Geschäfte davon unbeeinträchtigt bleiben.
Carl hat die Bilder vor sich , scharf und klar , als wäre er dabei gewesen , hätte selbst gesehen , wie der Heilige Vater in der Nachmittagssonne lächelnd , winkend , segnend durch die Menge auf dem Petersplatz fuhr , wie er all denen , die sich dort versammelt hatten , ein Fels des Glaubens und der Zuversicht gewesen ist , der Fels , auf den Christus seine Kirche gebaut hat , der Fels , auf dem jeder einzelne das Haus seines Glaubens errichtet. Von überallher sind die Menschen angereist , um ihm einmal in ihrem Leben leibhaftig nahe zu sein , um Trost und Weisung und Heil zu finden , um Gelübde zu erfüllen , Dank zu sagen für Genesung , Errettung aus Not und Gefahr. Sie stehen hier , weil sie hoffen , daß seine heiligen Augen für einen kurzen Moment auf ihnen ruhen , seine heilige Hand die ihre ergreift , damit etwas von der Kraft des menschgewordenen Gottessohns , des fleischgewordenen Wortes , des Erstgeborenen von den Toten auf sie übergeht. Danach werden sie gestärkt dorthin zurückkehren , wo die Vorsehung Gottes sie hingestellt hat , und froh , aufrichtig , gottgefällig inmitten all der Versuchung und Verderbnis ihren Weg durch das irdische Elend fortsetzen. Sie schwenken Fahnen , singen Lieder , beten Rosenkranz , preisen den Herrn an diesem warmen , freundlichen Frühlingstag auf dem weiten Platz mit seinen Säulengängen , dem Obelisken vor der gewaltigen Basilika , in der die Gebeine des Apostelfürsten ruhen , als plötzlich mitten in die Begeisterung , in die ungetrübte Freude an diesem von himmlischen Heerscharen bewachten , unter dem Schutzmantel Mariens geborgenen Ort , Schüsse fallen. Scharfe Pistolenschüsse. Gefolgt von Geschrei , Tumult. Er sieht , wie die Menschen auseinanderstieben , in Panik davonrennen , Alte , Junge , Kinder , wie sie aufeinandertreten , überrannt werden. Sicherheitskräfte , Polizei , Schweizer Gardisten. Sirenen.
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