Wir in Kahlenbeck: Roman (German Edition)

Mädchen wie Annie , das hat doch noch gar kein Leben gehabt , mit gerade einmal acht Jahren. Wie ist das denn mit einem Gott zu vereinbaren , der die Menschen liebt? – Da können Deine oberschlauen Freunde mir zehnmal etwas von Erbsünde erzählen , für mich ist das einfach Geschwätz. Oder soll Schwester Franziska zu den Leuten hingehen und sagen: › Wissen Sie , Herr und Frau Soundso , Sie hatten leider das Pech , daß der liebe Gott in Ihrem Fall die Erbsündenstrafe ein bißchen schwerer hat ausfallen lassen als bei den anderen Familien aus der Klasse Ihrer Tochter ‹ ?
    Zu mir hat sie gesagt , als ich da heulend stand: › Natürlich sind solche Schicksalsschläge schlimm für die Betroffenen , aber als Gläubige können wir sie bei aller Trauer doch auch in Demut annehmen , weil wir wissen , daß wir den Trost des Wiedersehens im himmlischen Jerusalem haben. ‹
    Ich hab’ mich umgedreht und bin weggerannt. Das war sicher kindisch , aber in dem Moment konnte ich nicht anders , sonst hätte ich ihr irgend etwas Schlimmes an den Kopf geworfen , das mir hinterher leid getan hätte. Schwester Franziska meint das wirklich sehr lieb , und ich bin mir sicher , daß sie an diese ganzen Sachen nicht nur mit Worten glaubt. Anders als Schwester Silvana , die superheilig daherredet , aber ein richtig böser Mensch ist. Schwester Franziska tut wirklich alles , um das Leid der Kranken zu lindern , selbst wenn es weit über ihre Kräfte geht. Aber das ändert nichts daran , daß unschuldige Kinder , die noch nicht einmal etwas von Adam und Eva gehört haben , hier im Krankenhaus sterben.
    Wenn ich über diese Sachen nachdenke und dann die Pilgergruppen durch Mariendorn ziehen sehe , mit ihren Rosenkränzen und dem › Freu dich , du Himmelskönigin ‹ -Gesinge , bevor sie in die Cafés einfallen und sich Tortenschlachten liefern , könnte ich laut Sch… schreien.
    Ach , Carl , mein Carl … Die Welt kommt mir so ungerecht vor. Und wenn ich mir dann mich selber anschaue , frage ich mich , womit ich mein eigenes Glück eigentlich verdiene? Ich bin nämlich leider ganz und gar nicht das liebe Mädchen , das Du in mir siehst. Oft herrscht in meinem Kopf so ein Durcheinander , daß ich sehenden Auges das Gegenteil von dem tue , was ich eigentlich tun will , und in mein Unglück renne. Wie mit Albrecht zum Beispiel. Oder auch die idiotische Geschichte mit Jan. Immer wieder gerate ich in solche bescheuerten Situationen , die ich einen Tag später am liebsten wieder rückgängig machen würde. Aber das geht wohl nicht. Was einmal passiert ist , gehört für immer zu meinem Leben , ganz gleich , ob es mir gefällt oder nicht. Das ist auch nicht gerade eine beruhigende Vorstellung.
    Mein liebster Carl: Wenn dieser Brief Dich erreicht , sind es nur noch ein , höchstens zwei Tage , bis wir uns sehen! Darauf freue ich mich schon , ich kann Dir gar nicht sagen , wie sehr!!! Dann reden wir über all diese Sachen ausführlich. Vielleicht bist Du ja bis dahin schlauer. ( Es klingt so , als ob Du zur Zeit fast jeden Tag mit › Jakobus ‹ zusammen wärest?! – Ich weiß nicht , ob ich davon begeistert bin. )
    Halt mich einfach ganz fest im Arm , damit ich Dir nicht davontreibe.
    Ich küss’ Dich tausendmal ,
    Deine UUU
    Stimmen , Stimmen im bleichen Schein des Mondes , zwischen Zweigen von Eichen und Pappeln , seine Spiegelung in der glatten Oberfläche des Sees , beinahe bewegungslos die Luft , um so lauter das Herz , aus allen Himmelsrichtungen , Hirnwindungen flüstert , wispert , murmelt es. › Ob sie mich schon betrogen hat , kurz davorstand , darüber nachdenkt , es fürchtet , davor wegläuft? ‹ › Du mußt etwas tun! ‹ › Du kannst nichts tun. ‹ Ohnmacht , solange es keine Möglichkeit gibt , jederzeit zu ihr zu fahren , länger als anderthalb Nachmittagsstunden draußen im Regen , in schneidender Kälte bei ihr zu sein. – Stimmen , die anschwellen , dröhnen , in Einzelteile zerfallen , zusammenhanglose Laute werden. › Sie wird dich verlassen , sie sucht schon nach einem anderen! ‹ Kaum zu unterscheiden , welche von innen kommen , welche durchs Ohr eindringen , vermischt mit dem Rascheln des dürren Laubs in den Büschen , den knackenden Ästen unter den Füßen. › Finde jemanden , der dir hilft , einen , der Macht hat. ‹ Aus Haus Oktogon tönt Iron Maiden bis hierher. Mitten in einem jaulenden Gitarrenlauf bricht es ab. › Es gibt ungeahnte Möglichkeiten! ‹ Schrecken. Entsetzen. › Einer wird