Wir in Kahlenbeck: Roman (German Edition)

kommen , vielleicht ist er schon da. ‹ Die eigenen Schritte gehören Verfolgern. Panische Blicke zurück. Sobald er stehenbleibt , halten auch sie an. Was , wenn es ein Gewalttäter ist? Einer von denen , die sich in die Wälder geschlagen haben , nur manchmal in bewohntem Gebiet auftauchen , um ein widernatürliches Verlangen zu stillen , Blutdurst. Hinter jedem Stamm kann einer lauern , der nichts als Töten im Sinn hat. › Steig nicht zu Fremden ins Auto! ‹ Muttermärchen aus Kindertagen. Wie kommt dieser Unfug in seinen Kopf an einem glasklaren Spätherbstabend , weit vor Mitternacht , lange bevor irgendein Wesen aus der Zwischenwelt sich regt. Freischwebende Angst. »Du bist ein Feigling« , spricht er sich vor: »Ich bin ein Feigling!« Hörbar , halblaut. Er gewinnt einige Schritte lang Sicherheit aus dem vertrauten Klang der eigenen Worte , selbst wenn sie das Falsche sagen. Rechts stürzt der Weg steil ab: dort , wo das Ufer des Sees sein muß , Schwärze , schwärzer als das sternenvolle Firmament über ihm , schwarz wie ein Ausschnitt des Nichts zwischen den Lichtpunkten , dem keine Spur des dreieinigen Gottes zu entnehmen ist , was immer Sieberts Theorie beweist. Andersartige Gestalten schälen sich aus dem Nachtgrund , versetzen die Luft in Schwingung. Es gibt sie , Wald- , Baum- , Wassergeister , gute darunter und Handlanger des Bösen. Sie wohnen schon immer hier , dort , über , unter , neben ihm , fassen ihn an , streicheln feucht seine Wangen , strecken ihre naßkalten Hände nach ihm aus , berühren ihn unter den Kleidern , unzüchtig , sündhaft. Geschrei aus dem Himmel von jenseits der Grenze. Es nähert sich. › Wer hat Angst vorm schwarzen Mann? ‹ – › Niemand! ‹ – › Und wenn er kommt? ‹ – › Dann laufen wir! ‹ So eng das Unterholz , die Sträucher , daß er nicht erkennen kann , was dort ist. Die Schritte beschleunigen , obwohl er es nicht will: Er will nicht weglaufen vor dem , was geschieht , wenn es , wenn etwas , wenn das geschieht , was er gedacht , herbeigewünscht hat , in Augenblicken irrsinnigen , verdorbenen , von allem Trost verlassenen Größenwahns und Kleinmuts. Wie soll er der Furcht Herr werden , wenn es jetzt auf dem Weg in die sichtbare Wirklichkeit ist , aus einer der unteren Welten plötzlich neben ihm auftaucht: › Mein Freund ‹ , kein Grund zu verzagen , ich bin da , ich helfe dir für geringen Lohn. – Wenn du stirbst , ist es bis in alle Ewigkeit vorbei , dein Spiel , wie viele Runden willst du noch aussetzen?«
    Aus der Ferne Hundegebell. Er haßt Hunde. Sie liegen an schweren Ketten , stürzen sich auf jeden , der ihr Revier betritt. Manchmal bricht einer aus , streunt herum: unberechenbare Bestien , deretwegen er die Höfe meidet. Ulla hingegen liebt Hunde. Für sie sind sie Familienmitglieder , Freunde. Dieser Albrecht hat auch einen Hund , einen Dobermann-Rottweiler-Mischling – das schlimmste , was man sich vorstellen kann.
    Er sollte sie anrufen , sobald er bei der Telephonzelle ist , fragen , ob dieser Affe mit seinem Zuhälterköter noch immer um sie herumstreicht , sie belästigt , und wie der andere heißt , der neu in ihrem Leben ist , ein Pfleger , dessen Namen sie ihm bis jetzt nicht genannt hat , obwohl er ständig in ihrer Nähe zu sein scheint: Bei der Visite stellt er sich gegen den Arzt auf die Seite der Patienten ; in den Pausen knackt er ihr Nüsse ; abends trifft sie ihn in der Musikkneipe , letztes Wochenende auf einer Party bei Lipschitz’ Schwester. Warum verschweigt sie seinen Namen? Wenn er den Namen kennt , gibt es vielleicht eine Handhabe. Schwester Eugenia hat erzählt , in Brasilien sind einmal alle Mitglieder einer Familie binnen Jahresfrist auf rätselhafte Weise zu Tode gekommen , nachdem einem bösen Zauberpriester die Namensliste für eine Geburtstagsfeier in die Hände gefallen ist , zusammen mit einem Photo. Nur zwei , die nicht auf dem Bild waren , ein elfjähriger Junge und seine Mutter , haben überlebt.
    Das Geschrei ist beinahe über ihm. Wildgänse. Sie ziehen gen Süden.
    Ulla wird mit jemand anderem gehen , eine Nacht oder länger. – Wie sonst soll er diese Formulierungen verstehen , daß sie immer wieder , auch nach Albrecht und Jan , Dinge tut , die sie nicht tun will , bereut , aber nicht rückgängig machen kann. Er sieht fremde , behaarte Männerhände , die sie von hinten umfassen , unter ihren Pullover gleiten , sich um ihre Brüste schließen , die er nie berührt , noch nicht einmal