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Wir Kinder der Kriegskinder

Wir Kinder der Kriegskinder

Titel: Wir Kinder der Kriegskinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne-Ev Ustorf
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selten werden die Kinder dann selbst zu Trägern der abgewehrten elterlichen Affekte. Dass dies zu Lasten einer gesunden emotionalen Entwicklung geht und die Kinder nur noch stärker an die traumatisierten Eltern bindet, liegt auf der Hand. Auch Anja blieb verbunden mit dem Trauma ihres Vaters – für ihre eigenen kindlichen Bedürfnisse blieb kaum Platz.

    Anja beschreibt ihre Eltern als haltlose Menschen, deren Ehe von Anfang an auf wackligen Beinen stand. Zwar waren beide sehr motiviert in ihrem Wunsch, ein Leben zu führen, das besser werden sollte als das ihrer Eltern – und doch scheiterten sie relativ schnell. Anjas Vater wanderte Mitte der 1950er Jahre in die USA aus. „Er wollte weg aus Deutschland, wo ihm die Bomben um die Ohren geflogen waren“, meint Anja. „Vielleicht wollte er auch endlich zu den Siegern gehören. Auf Besuch in Deutschland fuhrer stets mit einem gemieteten Auto vor und hatte jede Menge Dollar in der Tasche. Damit hat er sicher viel kompensiert: Seine kindlichen Erfahrungen von Ohnmacht, Mangel und Armut.“
    Auf einem dieser Besuche lernte er über die Adventistengemeinde Anjas Mutter kennen, damals 19 Jahre alt. Sie wurde schnell schwanger und folgte ihm kurz nach Anjas Geburt in die USA. Für eine gewisse Zeit sah die Zukunft für die beiden Kriegskinder rosig aus: Ein Leben in Wohlstand schien endlich erreichbar, aus Besiegten sollten Sieger, aus Verlierern Gewinner werden. Doch schon bald ging es bergab mit der Beziehung: Nach zwei Jahren USA hatte die Mutter genug und ging mit der kleinen Anja zurück nach Deutschland. Der Vater folgte wenig später und die Familie ließ sich in der Flüchtlingssiedlung in Norddeutschland nieder, in der Anjas Mutter aufgewachsen war. „Von da an haben sie sich nur noch gestritten“, erzählt Anja. „Mein Vater warf meiner Mutter ständig vor, sie sei dafür verantwortlich, dass er aus den USA zurückgekommen und dann in dieser Flüchtlingssiedlung gelandet sei. Schließlich fing mein Vater an zu trinken, bemühte sich in dieser Zeit jedoch noch, seine Sucht zu verstecken, schon wegen der Nähe zu den Großeltern mütterlicherseits.“
    Das Leben in den USA hatte den Vater ganz offensichtlich zunächst stabilisiert. Doch durch den Wegfall seiner Identität als erfolgreicher Emigrant und den Umzug in eine Flüchtlingssiedlung fanden die belastenden Kindheitserinnerungen und Ohnmachtsgefühle vermutlich wieder ihren Weg an die Oberfläche. Der Alkohol gab Halt: Die Flasche wurde zum Ersatzobjekt, zum verlässlichen Partner, der ihm die Beruhigung gab, die ihm im kriegserschütterten Deutschland so gefehlt hatte.

    Als Kind fühlte Anja sich zwar „körperlich versorgt, aber emotional verlassen“. Die Eltern waren nicht in der Lage, angemessen auf die Gefühle ihres Kindes einzugehen. Zuwendung erhielt sie nur, wenn sie krank wurde oder Probleme machte.
    Auch das Leben in der Flüchtlingssiedlung empfand Anja als einengend. Mit elf Jahren war diese Zeit für sie jedoch beendet, denn ihre Eltern bauten sich ein Haus auf dem Land. „Ich erlebte es als unglaublich befreiend, endlich aus dieser bedrückenden Enge rauszukommen, weg von den anderen Flüchtlingen, weg von der Familie meiner Mutter mit ihren tausend Kriegsgeschichten“, erzählt sie. „Aber gleichzeitig hatte ich auch starke Schuldgefühle ... die Freude und Lust am Leben, die da in mir erwachte, hielt ich für schlecht.“
    Die Unabhängigkeit und das Eigenheim auf dem Land trugen nicht dazu bei, dass Anjas Eltern sich stabilisierten, ganz im Gegenteil: Fernab der Flüchtlingssiedlung versagte die soziale Kontrolle durch die Adventistengemeinde und Anjas Vater verlor sich zunehmend im Alkohol. Ihre Rolle als Tochter sah Anja nun vor allem darin, ihre Eltern zu unterstützen. Gebraucht zu werden war Anjas Weg, damit die Eltern sie überhaupt wahrnahmen: „Solange man in dieser Helfer-Geschichte steckt, hat man noch die Hoffnung, dass etwas zurückkommen könnte“, meint Anja. „Doch irgendwann wird einem klar: Nein, es kommt nichts mehr.“ Sie entwickelte Bulimie, richtete ihre Aggressionen gegen den eigenen Körper statt gegen die als unzulänglich erlebten Eltern. Halt suchte sie in der Jugendbewegung der Adventisten, obwohl ihre Eltern selbst in der Kirche gar nicht besonders engagiert waren. „Obwohl es eine schwere Notlösung war, hat mich die Anbindung an die Adventisten wahrscheinlich gerettet“, glaubt Anja. „Das war eine Notwendigkeit für mich, sonst hätte ich

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