Wir Kinder der Kriegskinder
als Kind stets damit gerechnet habe, dass sein eigener Vater bald stirbt“, berichtet Anja. „Er hat mir immer wieder diese Geschichten erzählt … dass mein Großvater beim Bombenangriff im Bett lag und nicht aufstehen konnte, um in den Luftschutzkeller zu gehen. Und meine Großmutter sich weigerte, meinen Vater in den Bunker zu begleiten, weil sie ihren Mann nicht allein lassen wollte. Sie hat meinen Vater dann ohne Begleitung weggeschickt. Dieses Bild, wie mein Vater im Bunker sitzt und nicht weiß, ob seine Eltern noch am Leben sind … das geht mir nicht aus dem Kopf. Das ist eine fürchterliche Geschichte, die mich noch immer sehr betroffen macht.“
Anja erinnert sich an zahllose Kriegsgeschichten, die der Vater ihr immer wieder erzählte: Wie er als Kind in den Bombenhagel geriet, an eine Bunkertür klopfte und von fremden Leuten mit den Worten „Was macht ein so kleines Kind wie du allein hier draußen?“ hineingerissen wurde. Wie er auf dem Heimweg vom Schrebergarten bei Bombenalarm durch menschenleere Straßen irrte und nicht wusste, wo er sich verstecken sollte. Wie er inmitten rauchender Ruinen spielte. „Als Kind gingen mir diese Geschichten sehr nahe“, erzählt Anja. „Wann ich sie zum ersten Mal gehört habe, kann ich heute gar nicht mehr sagen –sie waren immer da. Man kam gar nicht um sie herum. Wenn wir mit dem Auto durch Berlin fuhren, tauchten die Erinnerungen meines Vaters an jeder Straßenecke auf: Hier stand das Haus, in dem wir ausgebombt wurden, dort wohnten wir bei Gemeindemitgliedern zur Untermiete, hier haben sie uns das aus den Flammen gerettete Klavier geklaut, dort habe ich mich bei Bombenalarm verlaufen. In den 1960er Jahren war das alles noch so präsent, da gab es jede Menge Häuserlücken und Schutthaufen.“
Mit dem Kriegsende war die schwierige Zeit für Anjas Vater aber noch lange nicht vorbei. Es passierte, womit niemand gerechnet hatte: Nicht der Großvater, sondern die Großmutter starb kurz nach Kriegsende, im Juni 1945, an einer Lungenentzündung, die aufgrund fehlender Medikamente nicht behandelt werden konnte. Nur ein Jahr später heiratete der Großvater eine deutlich jüngere Frau, die noch ein weiteres Kind mit in die Ehe brachte. Für ihren Vater sei diese Zeit sehr belastend gewesen, erklärt Anja: Der 12-Jährige war im Nachkriegs-Berlin auf sich selbst gestellt, seine drei älteren Brüder hatten das Elternhaus bereits verlassen. „Mein Onkel, sein drittältester Bruder, hat dann wohl eine Art Vaterrolle für ihn eingenommen“, ergänzt sie. „Auch er hat mir viele Geschichten erzählt: Wie mein Vater barfuß durch das zerbombte Berlin lief, um ihn zu besuchen. Ohne Schuhe, denn er hatte keine mehr und es hat sich auch niemand darum gekümmert. Die vier Söhne haben ihrem Vater nie verziehen, dass er direkt nach dem Tod der Mutter wieder ein neues Eheleben führte und sich nicht um sie kümmerte. Und ich mache meinem Vater heute im Prinzip dieselben Vorwürfe: Dass er sich nicht um mich gekümmert hat, dass er nicht präsent war.“
Bei Anjas Vater liegen die Erfahrungen des Krieges bis heute unbewältigt brach. Immer wieder erzähle er dieselben Geschichten aus Kriegszeiten, ohne dabei irgendeine Gefühlsreaktion zu zeigen, erzählt Anja. Dies ist kein ungewöhnliches Verhalten fürtraumatisierte Menschen: Obwohl das Trauma durch unablässiges Erzählen immer wieder beschworen wird, ist dies für die Betroffenen doch ein Versuch, sich von dem Erlebten zu distanzieren und das dabei empfundene Leid abzuspalten. So kann bisweilen sogar der Eindruck entstehen, dass die vergangenen traumatischen Erfahrungen einer anderen Person widerfahren sind.
Auch Anja macht auf mich diesen Eindruck: Wenn sie von den Kriegserinnerungen ihres Vaters erzählt, ist nur wenig Distanz zu verspüren, alles ist noch sehr nah, beinahe so, als ob sie es gerade selbst erlebt hätte. Obwohl sie doch aus zweiter Hand sind, gibt sie die Geschichten wieder wie einen zu oft gesehenen Film – was auch darauf schließen lässt, dass Anja früh mit diesen Erinnerungen konfrontiert wurde, in einem Alter, in dem sie noch nicht in der Lage war, sie zu verstehen – geschweige denn zu verarbeiten. Fast scheint es, als hätte Anja die Ohnmacht, Angst und Trauer des Vaters übernommen. Auch dies ist im Zuge einer Traumatisierung nicht ungewöhnlich: Kinder traumatisierter Menschen kommen den belasteten Eltern oft weit entgegen, um ihr Leid zu verstehen oder sie zu „retten“. Nicht
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