Wir Kinder der Kriegskinder
eingezogen und geriet Ende 1944 in russische Kriegsgefangenschaft. Die Familie sollte ihn fünf Jahre lang nicht sehen.
In dieser schwierigen Situation begab sich die neunjährige Lisa im Januar 1945 mit der Stiefmutter Clara und den drei Geschwistern auf die Flucht. Sie schafften es bis nach Lauscha im Thüringer Wald, wo die Familie bei Verwandten unterkam und unter materiell harten Bedingungen bis 1950 wohnen blieb. Für Lisa war das Leben in dieser Zeit sicher nicht einfach, ohne leibliche Eltern, ohne wirkliche Bezugspersonen. Vor allem aber durfte nicht geklagt werden: Der Großvater schickte aus der Gefangenschaft regelmäßig Briefe an die Familie, die Durchhalte-Appellen glichen. Für seine Tochter Lisa hatte er stets dieselbe Botschaft: „Auch du musst immer fröhlich sein und der Clara zur Hand gehen.“
Gerhard glaubt, dass diese Briefe seine Mutter stark prägten. „Einerseits machten sie Mut, aber andererseits verhinderten sie natürlich auch, dass meine Mutter spürte, was sie entbehrte“, erklärt Gerhard. „Und das wäre für die seelische Gesundheit der Familie sicherlich wichtig gewesen: Spüren zu dürfen, was man sich wünscht und braucht, nämlich liebevolle Zuwendung, genug zu essen, warme Kleidung, ein warmes Zuhause und dass derVater gesund aus der Gefangenschaft zurückkehren möge.“ In seinen Durchhalte-Briefen aus der harten Gefangenschaft vermittelte der Vater seiner Tochter, dass es für sie weder eine Berechtigung noch einen Grund gäbe, sich schlecht zu fühlen. Gerhard vermutet, dass seiner Mutter gar nichts anderes übrig blieb, als sich mit dem tapferen Vater zu identifizieren und die väterliche Botschaft „Du darfst nicht traurig sein“ zu verinnerlichen. „So lernte sie langsam, ihre Bedürfnisse gar nicht erst wahrzunehmen – schließlich ließen die äußeren Umstände deren Befriedigung ohnehin nicht zu“, vermutet Gerhard. „Das ist, denke ich, das klassische Verdrängungsmuster, das meine Eltern als Lebensstrategie verinnerlicht haben – und mit ihnen viele ihrer Generation.“
Gerhard beschreibt, dass in der Welt seiner Mutter noch heute kaum Platz für Gefühle wie Angst, Wut oder Trauer ist. Ihre Einstellung zum Leben sei vorwiegend rational und vernunftbetont. Emotionen würden von ihr überwiegend als „störend“ empfunden. Schon in seiner Kindheit sei dies so gewesen. „Wann immer meine Mutter an den Punkt kam, wo sie Gefahr lief, sich selbst zu spüren, begann sie, ein Riesentheater zu machen“, berichtet Gerhard. „Es war ganz klar eine Art von Vermeidungsstrategie: War sie ängstlich oder traurig, fing sie an, von ihren Kindern oder ihrem Mann ein anderes Verhalten zu fordern. Ihre ‚schlechten‘ Gefühle waren stets unserem Verhalten zugeordnet. Folglich mussten wir unser Verhalten ändern, damit sie sich wieder besser fühlen konnte.“
Es wurde also zur Aufgabe der Familie, die Emotionen der Mutter zu regulieren, denn sie selbst konnte es nicht. Unbewusst brachte sie ihre negativen Gefühle in ihren Kindern unter und sorgte bei diesen dementsprechend für tiefliegende Verwirrung.
„Wenn man sich selbst nicht spüren will und unangenehmen Gefühlen aus dem Weg gehen möchte, entwickelt man Strategien, um diese Gefühle anderen zuzuordnen“, erklärt Gerhard.„Und auf diese Weise bekommt der andere das Gefühl übertragen – obwohl es ja eigentlich nicht seins ist. Genauso hat das funktioniert.“ Vor allem in Gerhard wurde der mütterliche Mangel reaktiviert: Er war der Symptomträger, dessen diffuse Ängste, Trauer und Schuldgefühle rein rational nicht nachvollziehbar waren und so für seine Mutter unverständlich blieben. So wuchs Gerhard mit einem negativen Selbstbild auf: Unfähig, sich „zusammenzunehmen“, empfand er sich als schwach und „gestört“. Kaum verwunderlich, denn es gab ja auch niemandem, der dem Jungen beigebracht hätte, wie man negative Emotionen benennt, lernt, sie auszuhalten und zu verstehen, dass sie zum Leben dazugehören.
Vom Vater erhielt Gerhard in dieser Hinsicht wenig Rückendeckung. Er zog sich, so berichtet Gerhard, aus der Erziehung zurück und behielt seine Meinungen für sich – obschon er, glaubt Gerhard, oft die richtigen Argumente gehabt hätte. Doch als Erzieherin pochte die Mutter auch zu Hause auf ihre pädagogische Kompetenz. Der Vater konnte sich nicht wirklich durchsetzen und zog sich meist in seine Arbeit als Physikprofessor zurück. Innerlich war er abwesend und bot sich dem
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