Wir Kinder der Kriegskinder
war.“
Gerhard ist 1962 geboren und studierter Physiker. Seine Eltern gehören zur Generation der „älteren“ Kriegskinder: Der Vater ist 1931 in Nordhessen geboren, die Mutter 1936 in Schlesien. Beide Eltern sind, so erklärt Gerhard, weniger von konkreten Flucht- und Kriegserlebnissen geprägt als von Trennungs- und Beziehungsverlusterfahrungen in den Kriegsjahren. Noch heute könnten Mutter und Vater dies aber schlecht wahrnehmen: Ihre Angst und Trauer wehrten sie noch immer ab. Gerhard glaubt, dass innerhalb der Familie ihm, dem Sohn, die Aufgabe zufiel, diese verdrängten Emotionen der Eltern zu übernehmen.
Im Gespräch erzählt Gerhard, dass er beim Gedanken an seine Kinder- und Jugendjahre vor allem ein „undurchdringliches Gefühlschaos“ erinnert. Er sei ein ängstliches Kind gewesen: Als kleiner Junge quälten ihn diffuse Schuldgefühle, nachts schreckte er häufig aus Alpträumen auf. Doch was genau ihn so ängstigte, das konnte er nicht sagen. Auch seine Eltern seien hilflos gewesen und hätten die Ängste ihres Sohnes als etwas „Fremdes, Unverständliches“ betrachtet. Sie beschlossen, dass mit ihm „etwas nicht stimme“ und gaben Gerhard im Alter von fünf Jahren in psychologische Behandlung. Doch die Therapie war kein Erfolg und Gerhards Ängste blieben.
„Meine ganze Kindheit hindurch wurde ich von meinen Eltern pathologisiert“, erzählt er. „Das lief ganz nach dem Motto: Mit unserem Sohn ist was nicht in Ordnung.“ Die Eltern konnten offenbar nicht nachempfinden, was Gerhard derart bewegte, und so blieb er mit seinen Nöten allein – und schleppte seine diffusen Hemmungen und Angstzustände bis ins Erwachsenenalter weiter. Unbewusst begann er sogar, die Überzeugung seiner Eltern zu teilen. „Irgendwann sagte ich mir: ‚Ich bin auffällig und fürmeine Umwelt eigentlich nur halbwegs erträglich, weil meine Eltern so viel in mich investiert haben‘ “, erklärt Gerhard. „Bis vor einigen Jahren schrieb ich vor allem meiner Mutter noch diese Autorität zu: Dass sie gesund und ich krank sei.“
Erst eine langjährige Psychotherapie half Gerhard, das Gefühlschaos seiner Kindheit zu entwirren und zu verstehen, dass viele seiner Ängste tatsächlich „fremd“ waren. Mithilfe seines Therapeuten begab er sich auf eine Spurensuche in die Geschichte seiner Familie. Gemeinsam wollten sie verstehen lernen, welche verborgenen Konflikte der Eltern noch derart lebendig waren, dass sie in seine Kindheit und Erziehung hineingewirkt hatten.
„Im Laufe einer Therapie entdeckt man ja oft, dass hinter Gefühlen wie Angst oder Wut ganz andere Dinge liegen, gestörte Beziehungsmuster oder weitergegebene Lebensprobleme“, erklärt Gerhard. „Und irgendwann bin ich darauf gekommen, dass meine Eltern so sind, wie sie sind, weil sie in den Kriegsjahren aufwuchsen. Und dass auch ich noch an diesen Erfahrungen trage.“
Gerhard glaubt, dass er bereits als Kind die Gefühle übernahm, mit denen seine Eltern nicht umgehen konnten. Sie hatten in den schwierigen Kriegsjahren nicht gelernt, ihre frühen Verlust- und Mangelerfahrungen zu spüren und diese so unbewusst an den Sohn weitergegeben. Gerhards Eltern konnten stark sein, weil ihr Sohn für sie schwach war.
Gerhards Mutter wurde 1936 in Grünberg in Schlesien geboren, heute Zielona Góra in Polen. Den ersten Schicksalsschlag erfuhr sie bei ihrer Geburt: Infolge einer Infektion nach dem Kaiserschnitt starb Gerhards Großmutter fünf Tage nach der Niederkunft. Obwohl der Geburtsname des kleinen Mädchens Annemarie lautete, wurde sie fünf Tage später in Lisa umbenannt, nach ihrer verstorbenen Mutter. „Da hat sie aus meiner Sicht schon die erste Hypothek mitbekommen“, erklärt Gerhard. Die Mutter und ihr älterer Bruder wurden fortan von derUrgroßmutter versorgt, bis der Großvater 1941 seine zweite Frau Clara heiratete. Rasch wurden zwei weitere Kinder geboren und die fünfjährige Lisa fand sich in einer neuen Familienkonstellation wieder. Die neue Stiefmutter kümmerte sich wohl um die körperlichen Bedürfnisse der Stiefkinder; ein wirklicher Ersatz für die leibliche Mutter wurde sie aber nie.
Der frühe Verlust der Mutter wie auch die neue „Patchworksituation“ waren für das Kind sicherlich sehr belastend. Es ist davon auszugehen, dass die emotionalen Bedürfnisse des Mädchens in den Kriegsjahren nur unzureichend aufgefangen werden konnten. Finanzielle Not und Sorgen plagten die Familie in dieser Zeit. Der Vater wurde
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