Wir Kinder der Kriegskinder
Generation ohne Grenze, ohne Hemmung und Behütung – ausgestoßen aus dem Laufgitter des Kindseins in eine Welt, die die uns bereiten, die uns darum verachten.“ Er starb bereits 1947, lange bevor die Zeiten in Deutschland wieder besser werden konnten.
Ohne Bindung und Behütung, ohne Heimat und Abschied – so wuchsen auch viele Kriegskinder auf. Nicht allen von ihnen gelang es, ihre schrecklichen Kriegs- und Nachkriegserlebnisse adäquat zu verarbeiten. Sie gaben die Folgen an ihre Kinder weiter und bezogen sie so in die Verarbeitung des Erlebten mit ein. Und dennoch habe ich in den letzten Kapiteln zahlreiche Familiengeschichten erzählt, die deutlich machten, dass es für die Kinder trotzdem möglich war, durch eine Beschäftigung mit der Familiengeschichte die eigenen Belastungen zu überwinden.
Doch ich habe auch Menschen getroffen, für die das schwieriger war. Kinder von Kriegskindern, deren Eltern so gravierende emotionale Störungen aufwiesen, dass es für sie ein langer Weg war, überhaupt zu einem Gefühl der eigenen Identität zu finden. Die nur schwer zwischen der Geschichte der Eltern und der eigenen Geschichte unterscheiden konnten und über viele Jahrzehnte massiv in ihrer Lebensgestaltung beeinträchtigt waren. „Wenn das Trauma der Eltern unerkannt, unbenannt und unbesprochen bleibt, kann es von den Kindern nicht ‚geortet‘, verbalisiert und symbolisiert werden“, schreibt die Psychotherapeutin DagmarSoerensen-Cassier. „In der Folge können die Kinder dieser traumatisierten Eltern dann keine klare Abgrenzung zur Elterngeneration finden und bleiben unaufgelöst über das ,Verschwiegene‘ mit ihnen verbunden.“ (Soerensen-Cassier: Transgenerationelle Prozesse von NS-Traumatisierungen)
Den Geschichten dieser Menschen möchte ich mich in diesem Kapitel widmen. Auf den kommenden Seiten erzähle ich von drei Gesprächspartnern, deren Leben auf verschiedene Weise geprägt ist von der Suche nach Abgrenzung zur Geschichte der Eltern. Sich aus den emotionalen Verstrickungen zu lösen und das eigene „Ich“ zu entdecken, kostete sie viel Kraft und Zeit. Anhand ihrer Biographien möchte ich verdeutlichen, wie schwer das Erbe des Krieges für die nächste Generation sein kann.
„Diese schrecklichen Erfahrungen müssen irgendwo hin.“
Bereits am Telefon erklärt Anja mir, dass es ihr manchmal nicht gelänge, die eigenen Erinnerungen von den Erlebnissen ihrer Eltern zu trennen. Vor allem die Kriegserinnerungen ihres Vaters seien ihr so vertraut, als hätte sie den Krieg selbst erlebt. Als wir uns wenige Tage später treffen, ist sie aber unsicher, ob das alles wirklich in Worte zu fassen sei. „Ich bin mir nicht sicher, ob ich das kommunizieren kann“, meint sie, „und ob ich mich dabei auch ernst nehmen kann. Ich neige dazu, mir zu sagen: Stell Dich nicht so an, das war doch alles nicht so schlimm.“
Anja ist 1960 geboren, 15 Jahre nach Kriegsende. „Das ist nicht viel, 15 Jahre“, gibt sie zu bedenken. „Als ich geboren wurde, war der Krieg wirklich noch sehr präsent. Ich bin mit lauter Kriegsgeschichten groß geworden, von der Flucht und der Bombardierung Hamburgs. Hinzu kommt, dass ich in einer dieser Flüchtlingssiedlungen aus Hunderten kleiner Häuschen, die durch Ausgleichszahlungen finanziert wurden, aufgewachsen bin. Dort wohnten nur Flüchtlinge wie meine Eltern, ich bin mit deren Kindern zur Schule gegangen. Als Kind habe ich die Kriegsluft also quasi noch eingeatmet.“
Ihre Lebensprobleme – Essstörungen, Alkoholismus, Depressionen – brachte Anja jedoch lange ausschließlich mit den individuellen Belastungen ihrer Familiengeschichte in Verbindung. Erst in den letzten Jahren schlug sie einen Bogen zur Kriegsvergangenheit ihrer Eltern. Eine Begebenheit auf einer Party im Januar 1991 diente als Schlüsselerlebnis. Anja feierte mit Freunden Geburtstag, als ein Bekannter anrief und sie bat, den Fernseher einzuschalten: Bilder von Kampfflugzeugen flackerten über den Bildschirm, der Beginn der Operation „Desert Storm“ des Zweiten Golfkriegs. „In diesem Moment fing ich furchtbar an zu weinen. Das kam irgendwie aus dem Dunkeln“, erzählt sie. „Obwohl ich janicht wirklich persönlich davon bedroht war, hatte ich den Eindruck: Nun passiert das, wovor du dich immer gefürchtet hast. Diese Angst vor einem Krieg war in meinem Unbewussten offensichtlich so präsent, dass ein Fernsehfilm ausreichte, um sie zum Ausbruch zu bringen.“
Anja wurde bald klar, dass die
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