Wir Kinder der Kriegskinder
das sicher nicht überstanden.“
Nach dem Abitur ging sie für ein Jahr als Au-Pair in die USA, vermittelt durch die Adventistengemeinde. Sie wollte vor allem weg von ihrem Vater, dessen Alkoholsucht schrecklich mitzuerleben war. „Natürlich lehnte ich meinen Vater nur vordergründig ab, weil ich mich von ihm so im Stich gelassen fühlte“, reflektiert Anja heute. „Darunter lag eine tiefe Liebe, mit der ich heute noch nicht umgehen kann und die mich wiederum dazu trieb, inden USA auf seinen Spuren zu wandeln. Dort machte ich dann die schier unglaubliche Erfahrung, dass ich 20 Dollar von jemandem bekam, der sich 20 Jahre zuvor diese Summe von meinem Vater geliehen hatte.“
Als Anja zurück nach Deutschland kam, wurde ihr unerwartet ein Platz an einer renommierten Kunsthochschule in Berlin angeboten. Zu etwa demselben Zeitpunkt lernte ihre Mutter einen anderen Mann kennen, trennte sich von Anjas Vater und verließ die Stadt. Der Vater beschloss nun, sich seiner Alkoholsucht zu stellen: Er fuhr zur Kur und hörte auf zu trinken. Plötzlich gab es niemandem mehr, dem Anja helfen konnte: Auf sich selbst zurückgeworfen, verspürte sie ihre eigene Bedürftigkeit plötzlich überdeutlich. „Meine Essstörung erledigte sich und ich fing stattdessen an zu trinken“, erzählt Anja. „Aber was mich im Grunde quälte, das waren Depressionen.“ Mit 29 Jahren machte auch sie einen Entzug und begann mit Hilfe einer Psychotherapie zum ersten Mal, sich mit der eigenen Geschichte auseinanderzusetzen. Den Kontakt zum Vater brach sie ab. „Ich hatte so viel Wut, so viele verletzte Gefühle und immer noch so viele Erwartungen an ihn, dass ich es nicht aushielt, ihn zu sehen“, sagt Anja. „Da war immer diese Hoffnung, dass ich irgendwann noch einmal etwas von ihm kriegen würde. Erst seit ein paar Jahren habe ich nun verstanden, dass bei ihm nichts zu holen ist. Er hat nichts zu geben. Woher auch: Aufgrund seiner Familienkonstellation und der Kriegszeiten hat er ja selbst nichts bekommen. Seit ich das verstanden habe, kann ich etwas besser mit ihm umgehen.“
Heute lebt Anja allein in Berlin und arbeitet als freie Künstlerin – mal mehr, mal weniger erfolgreich. Partnerschaften findet sie schwierig, berufliche Chancen kann sie trotz ihres offensichtlichen Talents manchmal nicht wahrnehmen. „Ich kann mir nur schwer etwas nehmen“, sagt Anja. „Ich kann mich nicht binden und nicht zugreifen und nichts halten. Obwohl ich in meinemLeben viele Möglichkeiten hatte, konnte ich sie oft nicht nutzen.“ Anja glaubt heute, dass diese Unfähigkeit durch eine noch immer währende Solidarität mit der Geschichte ihres Vaters zu erklären ist, dessen Kindheitserfahrungen im Kriegs- und Nachkriegsdeutschland es ihm kaum ermöglichten, ein stabiles Leben zu führen. Heute lebt er am Existenzminimum, in einer Kleinstadt am Rande Berlins, allein, denn seit der Trennung von der Mutter hat er sich nie wieder gebunden. Anja ist, auf den ersten Blick, gleichermaßen „bedürfnislos“ geblieben: „Gehemmt von Schuldgefühlen“ schützt sie sich vor weiteren enttäuschenden Beziehungserfahrungen. Sie ist immer wieder in Therapie. „Ich muss noch immer darauf achten, wie viel ich von meinen Eltern aushalten kann“, meint sie, „denn meine alte Bedürftigkeit, mein Wunsch nach Zuneigung kommt natürlich immer wieder in mir hoch.“ Mit dem Leiden, den Verlusterfahrungen und dem Trauma ihrer Eltern bleibt sie untrennbar verbunden.
Anja hofft, dass sie irgendwann in der Lage sein wird, ihre Potenziale besser zu entfalten als bisher. Ihre Chance zur Gesundung sieht Anja darin, die Liebe zu ihren Eltern endlich anzunehmen. Sie wünscht sich, trotz aller Enttäuschungen nicht mehr in der Erwartung verharren zu müssen, noch etwas von ihnen zu bekommen – sondern auch ihre guten Seiten und die Zuneigung zu ihnen zulassen zu können. Vielleicht, reflektiert Anja, könne sie sich dann auch mehr Lebensfreude erlauben, anstatt zu leiden, nur weil es den Eltern schlecht geht. Trost findet sie in dem Gedanken, dass sie auf diesem Weg bereits viel Unterstützung erfahren durfte: „Ich habe durch Therapie, Medizin, Selbsthilfe, Bildung, Kunst und Religion unendlich viele Chancen erhalten, etwas für mich zu tun“, meint sie. „Das sind Chancen, die meine Großeltern und Eltern in den Kriegs- und Nachkriegsjahren nie hatten. Und dafür bin ich unendlich dankbar.“
„Meine Eltern konnten stark sein, weil ich für sie schwach
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