Wir Kinder der Kriegskinder
Kriegskindheit nicht nur ihre Eltern – 1934 und 1939 geboren – sondern auch viele andere in dieser Generation prägte. Fast alle ihre Freunde hatten Eltern, die auf irgendeine Weise noch an kindlichen Kriegserlebnissen zu tragen hatten.
Inzwischen glaubt Anja aber, dass die Kriegskindheit für ihre Eltern besonders weitreichende Folgen hatte. „Mit dem Horror seiner Kindheit konnte mein Vater nicht das aus seinem Leben machen, was er sich erhofft hätte“, sagt sie. „Wenn ich mir überlege, was er als Kind alles durchgemacht hat, empfinde ich es manchmal als ein Wunder, dass er noch lebt.“ Und auch auf Anjas eigene Biographie färbten die Erfahrungen der Eltern ab.
Anjas Mutter, 1939 geboren, ist ein Flüchtlingskind aus dem Osten. Sie stammt aus einem deutschen Dorf in Rumänien. Nach dem Hitler-Stalin-Pakt von 1939 wurden die Großeltern wie alle anderen Deutschstämmigen aufgefordert, innerhalb weniger Monate „heim ins Reich“ zu kehren. Die Jahre 1940 bis 1942 verbrachte die Familie in einem Auffanglager: Eine schwierige Zeit für alle Beteiligten, musste der Verlust von Heimat und Besitz doch erst einmal verkraftet werden. Ende 1942 wurde die Familie ins okkupierte Polen umgesiedelt, um dort einen Bauernhof im „Reichsgebiet“ zu bewirtschaften. Nun war es Anjas Familie, die einen fremden Hof übernahm, dessen polnische Besitzer von deutschen Soldaten vertrieben oder gar ermordet worden waren. Als der Großvater wenige Monate vor Kriegsende an die Front ziehen musste, blieb die Großmutter mit den kleinen Kindern zurück. „Sie war offenbar völlig überfordert, gebrochen vom Verlust ihrer Heimat“, erzählt Anja. Als die sowjetischen Truppennahten, hatte die Großmutter jedoch Glück im Unglück: Verwandte nahmen sie und ihre Kinder mit. Während der Flucht hielt die Familie eisern zusammen. Möglicherweise spielte dabei auch eine Rolle, dass die Familie einer evangelischen Freikirche, der Gemeinde der „Siebenten-Tags-Adventisten“ angehörte, deren Weltanschauung Anja kritisch als „fundamentalistisch-sektiererisch“ beschreibt.
Als der Krieg endete und die Großfamilie sich endlich in einer Flüchtlingssiedlung in Norddeutschland niederlassen konnte, war Anjas Mutter erst sechs Jahre alt. Bis heute kann sie sich kaum an diese frühen Kindheitsjahre erinnern. „Aber die Nachkriegsgeschichten, die Hungersnot, die Ablehnung als Flüchtlingskind, die erinnert sie wohl“, erzählt Anja.
Irgendwann kehrte auch der Großvater aus britischer Kriegsgefangenschaft zurück: Ein ziemlich grober Mann, dessen Rückkehr für die kleine Tochter offenbar ein Schock war. Anja kann sich gut vorstellen, wie ihre Mutter den Großvater erlebte, denn auch bei ihr selbst hinterließ seine Präsenz deutliche Spuren: „Ich bin groß geworden mit diesem Berserker als Großvater und dieser hochsensiblen Großmutter, die beide keine Chance in ihrem Leben hatten“, erläutert sie. „Das alles vor dem Hintergrund dieser fatalen Mischung aus Kriegsgeschichten und religiösen Weltuntergangsphantasien. Für meine Familie war die Welt ja tatsächlich fast untergegangen: Sie hatten also gute Argumente. So war es auch für mich als Kind kaum möglich, überhaupt Vertrauen aufzubauen.“
Auch die väterliche Seite der Familie vermittelte Anja als Kind keine Sicherheit.
Anjas Vater, 1934 in Berlin geboren, wuchs wie die Mutter in einer Adventistenfamilie auf. Sein eigener Vater hatte in den späten 1930ern seinen sicheren Job beim Zollamt gekündigt und war zu den Adventisten konvertiert. Er ließ sich als Prediger ausbilden und widmete sich fortan einer Adventistengemeinde in Berlin.„Ich habe mir natürlich Gedanken darüber gemacht, warum mein Großvater konvertierte“, meint Anja. „Ich habe diesbezüglich nur Vermutungen, fragen kann ich ihn nicht, denn er starb, als ich sechs war. Aber ich vermute, dass er ein starkes Alkoholproblem hatte und bei den Adventisten eine Art Bekehrungserlebnis erfuhr. Alkohol ist bei den Adventisten streng verboten. Und Alkohol ist das große Thema meiner Familie.“
Für Anjas Vater, den Jüngsten von vier Söhnen, sei der Großvater kaum präsent gewesen, erzählt Anja. Zumal sich in den letzten Kriegsjahren herausstellte, dass er unter einem schweren Herzfehler litt und immer wieder lange Zeit im Bett verbringen musste. Die Familie war also doppelt belastet: durch die Krankheit des Vaters und die wiederholten Bombardierungen Berlins. „Mein Vater sagte immer, dass er
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