Wir Kinder der Kriegskinder
Nachrichten für die Kriegskinder und ihre Kinder, bedeutet es doch, dass wir unseren Prägungen nicht ausgeliefert sind. An einer schwierigen Kindheit, ob im Krieg oder im Schatten des Krieges, können wir wachsen. Selbst Bindungsverluste können teils kompensiert werden.
Ein gutes Beispiel dafür ist das Leben des renommierten Dirigenten Christoph Eschenbach, 1940 als Christoph Ringmannin Breslau geboren. Die drei wichtigsten Bezugspersonen verlor er vor seinem fünften Lebensjahr: Die Mutter starb kurz nach der Geburt, der Vater fiel an der Front und die Großmutter verstarb auf der Flucht. Als Waisenkind landete der fünfjährige Junge in einem Flüchtlingslager in Mecklenburg, wo er aufgrund des Schocks aufhörte zu sprechen und an Typhus erkrankte. Im Januar 1946 dann fand ihn eine Cousine seiner Mutter, die Sängerin und Pianistin Wallydore Eschenbach. Erst in ihrer Obhut begann er wieder zu sprechen: „Und zwar mit dem Wort ‚ Ja‘ auf die Frage, ob ich selbst Musik machen wolle“, erklärte Eschenbach in einem Interview in der ZEIT. „Die Eindrücke forderten Ausdruck. Musik gab mir diese Möglichkeit und öffnete das Ventil. Was normalerweise bei einem Kind als Interesse gedeutet werden könnte, war Obsession und zusammen mit neuem Lebenshunger Lebensantwort.“
Das Kriegskind Eschenbach überwand die schrecklichen Erfahrungen seiner frühen Kindheit mit Hilfe der engen Beziehung zu seiner Adoptivmutter und der Liebe zur Musik, die für ihn zu einem Mittel wurde, seine unaussprechlich schmerzlichen Gefühle ausdrücken zu können. Nach dem Klavierstudium begann er zu dirigieren und leitete schließlich Weltklasse-Orchester wie das Houston Symphony Orchestra, das Orchestre de Paris und das Philadelphia Orchestra. Die Erfahrung des Leidens und der anschließenden Rettung durch seine Adoptivmutter hinterließen bei dem Dirigenten ein großes Gefühl der Dankbarkeit. Er sei durch diese Erfahrungen „sensibler für den Obdachlosen auf der Straße“ geworden, erklärt Eschenbach. Auch hätte er aufgrund dessen eine bessere Wahrnehmung der intensiven Schönheit des Lebens erhalten: „Ohne kitschig zu werden: Ein Sonnenaufgang ist so etwas. Oder ein Tautropfen.“ Bis heute schenke ihm die Musik große Freude und diene als unerschöpfliche Kraftquelle.
Jeder Einzelne von uns, ob Kriegskind oder Kind von Kriegskindern, kann am Aufbau der eigenen Resilienz arbeiten. DieTrauma-Expertin Luise Reddemann fordert in der psychotherapeutischen Arbeit schon lange eine Rückbesinnung auf die individuellen Ressourcen – die persönlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten – eines jeden Menschen und erklärt, dass man Resilienz erlangen könne, wenn man sich zwar mit seinen negativen Gefühlen auseinandersetze und diese anerkenne, sie allerdings nicht verstärke. Stattdessen sei es wichtig, auch positive Gefühle aufzubauen, indem man herausfindet, was einem Freude macht, worin die eigenen Stärken liegen, welche guten Dinge man auch erlebt hat.
Als besonders hilfreich erachtet Reddemann eine kreative Auseinandersetzung mit dem eigenen Leid, etwa durch Musizieren, Malen, Schreiben, Handwerken, Gärtnern – alles, was uns in den Zustand des „Flow“ versetze. In ihrem Buch Überlebenskunst schildert sie am Beispiel Johann Sebastian Bachs, wie man eigene Ressourcen finden und die seelische Widerstandskraft stärken kann. „Bach erlitt in seinem Leben immens viele Schicksalsschläge, er war bereits mit zehn Jahren Vollwaise, verlor seine erste Ehefrau und sieben seiner Kinder“, erklärt sie mir in einem Interview für die Zeitschrift Psychologie Heute. „Und dennoch hatte er trotz allem unglaublich viel Selbstheilungskraft, um mit dem Schweren in seinem Leben fertig zu werden. Er nutzte seine kreative Arbeit, um sich mit Abschied und Sterben in seinem Leben auseinanderzusetzen. Dadurch, dass er seinen verzweifelten Gefühlen – zum Beispiel in seinen Kantaten – Ausdruck verlieh, fand er vielleicht auch wieder zu mehr Freude. Bach ist ein Vorbild dafür, wie jemand mit schweren Erfahrungen im Leben fertig wird. Trotz der tiefen Verzweiflung Bachs steckt in fast jeder noch so düsteren Passage seiner Musik auch immer ein wenig Freude – und sei es, durch die musikalische Struktur.“
Doch Reddemann glaubt auch, dass man am Aufbau der eigenen Selbstheilungskräfte lebenslang arbeiten müsse, denn wenn man nichts dafür tue und ein stressiges Leben führe, baue sich die Resilienz wieder ab: „Deshalb ist es
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