Wir Kinder der Kriegskinder
enorm wichtig, dass man sichsehr bewusst wird, was einen aufbaut und einem Kraft gibt. Und das sollte man dann auch wirklich praktizieren – zum Beispiel, indem man sich regelmäßig die Zeit für kreative Tätigkeiten einräumt.“
Auch vielen meiner Gesprächspartner half das kreative Arbeiten bei der Bewältigung ihrer Lebensprobleme: Claudia und Andreas zogen Kraft aus der Malerei, Lena fand Erfüllung in ihrer künstlerischen Arbeit, für Gerhard war es wohltuend, seine Gedanken niederzuschreiben. Auch eine Psychotherapie erlebten viele von ihnen als hilfreich, um Klarheiten in das eigene „Gefühlswirrwarr“ zu bringen. Nicht selten führte die Erkenntnis, dass die eigenen Lebensprobleme eng verwoben mit den emotionalen Erbschaften der Eltern waren, dann zu einer intensiven Auseinandersetzung mit der eigenen Familiengeschichte. Doris besuchte Archive und stieß durch die Beschäftigung mit den verlorenen Besitztümern ihrer Familie im Osten Deutschlands zu den Wurzeln ihrer eigenen Trauergefühle vor. Agnes recherchierte die Ankunft der Vertriebenen in Baden-Württemberg und erhielt somit Aufschluss über die schwierigen Lebensumstände ihrer Großeltern in den ersten Nachkriegsjahren, zur Zeit der Geburt ihrer Mutter. Gerhard begann, alte Briefe aus Kriegszeiten zu lesen, die ihm zeigten, wie wenig „kindgerecht“ seine Eltern in diesen frühen Jahren gelebt hatten. Die nochmalige Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte im Rahmen der Interviews zu diesem Buch bestärkte einige meiner Gesprächspartner in ihrem Plan, ein noch intensiveres Gespräch mit den Eltern über deren Erfahrungen und die eigenen Prägungen zu führen.
Natürlich war das nicht immer einfach, doch es half, um sich von alten Wünschen und Trauergefühlen verabschieden und die Eltern als ihrerseits belastet betrachten zu können. „Ich verstehe meine Eltern jetzt“, schrieb Doris mir in einer Mail. „Ich muss es nicht gutheißen, wie sie als Kind mit mir umgegangen sind. Aber ich verstehe jetzt, dass sie aufgrund dessen, was ihnenwiderfahren ist, nicht anders konnten! Denn was haben sie für eine Anstrengung unternehmen müssen, um nach ihren Erfahrungen überhaupt wieder ins Leben zu kommen!“
Und auch für mich ist es nun viel leichter, meine Eltern so zu akzeptieren, wie sie sind. Ihr bisweilen schwer nachvollziehbares Verhalten kann ich nun besser einordnen – und ihre vielen guten Seiten deshalb umso mehr schätzen. Das Kind in mir, das nie genug bekommen hatte, kommt inzwischen nur noch selten zum Vorschein. Heute stehen wir uns als Erwachsene gegenüber.
Es gibt also einiges, was die Kinder der Kriegskinder tun können, um aus dem Schatten der Vergangenheit zu treten: Die Familiengeschichte erforschen, mit den Eltern sprechen, die Selbstheilungskräfte aktivieren. Wer diesen Weg nicht allein gehen mag, für den ist Hilfe da: Mittlerweile gibt es einige professionell geleitete Selbsterfahrungsgruppen für Kriegskinder, die offen für Angehörige der dritten Generation sind (einzusehen auf der Internet-Seite www.kriegskind.de). Auch die Journalistin Sabine Bode und ihr Mann Georg Bode, ein Familien- und Traumapsychotherapeut, bieten Seminare zur Biographiearbeit für die Jahrgänge der Kriegsenkel an (Termine auf www.sabine-bodekoeln.de). Vielleicht gelingt es uns mit Hilfe dieser Auseinandersetzung, bald auch die positiveren Seiten des Erbes unserer Eltern stärker in den Blick zu nehmen: Das politische Bewusstsein, dass viele Kriegskinder ihren Kinder vermitteln konnten oder die Fürsorglichkeit – wenn auch oft nicht auf emotionaler Ebene – durch die viele Kriegskinder ihre Kinder prägten. Denn wir haben dieser Generation viel zu verdanken. Ihre enorme Leistungskraft und ihr politisches und gesellschaftliches Engagement ermöglichten uns eine Kindheit in Frieden und Wohlstand. Den Krieg, den kennen wir nur aus ihren Erzählungen. Dafür können wir dankbar sein.
Ausblick: Kriegskinder in Deutschland heute
Wenn Amir aus seinem Fenster schaut, sieht er nur einen kargen Bahndamm. Der 20-Jährige wohnt in der Flüchtlingsunterkunft der Stadt Flensburg, einem kleinen grauen Bungalow am Rande der Stadt, eingekeilt zwischen Autobahnzubringer und Bahngleisen. Gegenüber liegt das Obdachlosenheim. Meistens zieht Amir seine Gardinen zu, um nicht rausgucken zu müssen. Er lässt seine Blicke lieber auf den vielen Bildern ruhen, die an den Wänden seines winzigen Zimmers hängen: Zwei Poster von New York, eine große
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