Wir Kinder der Kriegskinder
zu vielen interessanten Fragen: Welche lebenslangen Prägungen hatte das Aufwachsen in nationalsozialistischen Jugendorganisationen bei meinen Großeltern hinterlassen? Wie hatten sich diese auf ihre Kinder und auch uns Enkel ausgewirkt? Hatte die Erfahrung, einmal gänzlich auf der falschen Seite gestanden zu haben, bei meinen Großeltern nicht später zu einer grundlegenden Lebensverunsicherung geführt? Und hatte sich diese Verunsicherung nicht auch in den Lebenswegen ihrer Kinder niedergeschlagen? Für andere Teile der Familie hingegen war diese Auseinandersetzung zu bedrohlich: Sie mochten die Tagebücher nicht lesen und bezeichneten uns als überheblich – und meine Großeltern als „bestenfalls Verführte“.
Dass es aber für jede Familie wichtig ist, sich der nationalsozialistischen Vergangenheit der Großeltern-Generation bewusst zu sein, konnte jüngst die Sozialwissenschaftlerin Michaela Köttig in einer Studie über die Ursachen rechtsextrem orientierterHandlungsmuster bei jungen Frauen aus der Neonazi-Szene nachweisen (Köttig: Die Bedeutung der intergenerationalen Weitergabe in Familien- und Lebensgeschichten rechtsextrem orientierter junger Frauen). Köttig fand heraus, dass die nationalsozialistische Familienvergangenheit unter Umständen bis in die vierte Generation hineinwirkt.
Die Sozialwissenschaftlerin interviewte 38 Frauen der Jahrgänge 1974 bis 1985, deren Großeltern zwischen Anfang der 1920er und Anfang der 1930er Jahre geboren wurden. Dass der familiäre Hintergrund bei der rechtsextremen Orientierung der Frauen eine Rolle spielen könne, hatte Köttig zu Beginn ihrer Studie nicht erwartet: Sie betrachtete vor allem die schwierigen biographischen Erfahrungen der jungen Frauen und die stützenden sozialen Rahmenbedingungen der Neonazi-Szene als ausschlaggebend. Im Laufe der Analysen kristallisierte sich jedoch heraus, dass auch unbearbeitete Themen aus der Familienvergangenheit bei den Enkelinnen und Urenkelinnen ihren Niederschlag fanden. Oftmals führte gerade ein Mangel an Identifizierung mit den eigenen Eltern zu einer Hinwendung zur Großeltern- oder Urgroßelterngeneration, die dann aufgrund ihrer nostalgischen Erinnerungen an die NS-Zeit von den Enkelinnen als NS-Helden und somit starke Vorbilder konstruiert wurden. „In der Regel hatten weder die Großeltern noch die Eltern der Biographinnen den reflektierenden Dialog über die Familienvergangenheit eröffnet“, schreibt Köttig. „In keinem Fall konnten Hinweise auf eine aufdeckende Auseinandersetzung über die Mitverantwortung sowie die Beteiligungen am Nationalsozialismus und über damit verbundene möglicherweise begangene Verbrechen gefunden werden. Ganz im Gegenteil zeigte sich, dass die Biographinnen die Opfer- und Leidensgeschichten ihrer Großeltern thematisch ausbauten und Verdachtsmomente auf deren Täterschaft negierten. Die Enkelinnen und Urenkelinnen sind demnach in das familiale Schweigen in gewisser Weise eingebunden und unterwerfen sich dem auch in bestimmten Bereichen.“
Köttigs Studie demonstrierte also, dass sich unbearbeitete Anteile der Familienvergangenheit mit zunehmendem Abstand nicht von selbst auflösen. Ganz im Gegenteil zeigten sich diese Spuren auch in der vierten Generation noch überdeutlich. Zu Recht also empfindet es die Sozialwissenschaftlerin als gefährlich, dass der zunehmende zeitliche Abstand und Mangel an bewusster Erinnerung es heute immer schwieriger macht, diese Verbindungen zu rekonstruieren. Denn schließlich wirkt die Vergangenheit nicht nur auf einer individuellen Ebene bis in die Gegenwart hinein – auch politische und gesellschaftliche Orientierungen und Entwicklungen sind stets davon betroffen.
Gerade die dritte Generation, die Kinder der Kriegskinder, hat nun die Möglichkeit, das vielfach beschworene Schweigen über die Verwicklungen der eigenen Familie in den Nationalsozialismus zu brechen. Denn die Kinder der Kriegskinder sind weit genug entfernt vom Geschehenen, um innerhalb der Familien einen neuen Dialog aufnehmen zu können. Profitieren können wir davon letztlich alle. Denn erst durch die individuelle Beschäftigung mit unserer nationalsozialistischen Vergangenheit anhand der eigenen Familiengeschichte ist es vielleicht möglich, eine Abspaltung der „Nazis“ von den „Deutschen“ zu vermeiden und die im Namen des Nationalsozialismus begangenen Verbrechen als etwas weniger „Fremdes“ begreifen zu lernen. Und somit als etwas, was wieder passieren
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