Wir Kinder der Kriegskinder
könnte, sollte es uns nicht gelingen, durch die Reflexion des Geschehenen auch die Weitergabe innerhalb unserer eigenen Familien zu verhindern.
Diese Auseinandersetzung zu führen ist jedoch nicht immer leicht. Der Psychotherapeut Jürgen Müller-Hohagen plädiert dafür, bei dieser Art von Aufarbeitung im Zusammenhang mit Fragen von Täterschaft und Täterhaftigkeit sensibel vorzugehen: Zeige man vor allem mit dem Finger auf andere, „setzten nur mit Macht die verschiedenen Abwehrmanöver ein, insbesondere in Richtung des Statements ‚Täter, das sind die Anderen.‘ “(Müller-Hohagen: Übermittlung von Täterhaftigkeit an die nachfolgenden Generationen). Viel besser sei es, so Müller-Hohagen, wenn dem Blick nach außen der auf sich selber vorausgegangen sei, auf die eigene Geschichte und Lebenspraxis. Und wenn dabei auch die Frage nach eigener Täterhaftigkeit nicht ausgeklammert werde: „Es geht um eine Kultur der von Selbstreflexion getragenen Bemühungen um Wahrheit und Wahrhaftigkeit.“
Hohagen: Übermittlung von Täterhaftigkeit an die nachfolgenden Generationen). Viel besser sei es, so Müller-Hohagen, wenn dem Blick nach außen der auf sich selber vorausgegangen sei, auf die eigene Geschichte und Lebenspraxis. Und wenn dabei auch die Frage nach eigener Täterhaftigkeit nicht ausgeklammert werde: „Es geht um eine Kultur der von Selbstreflexion getragenen Bemühungen um Wahrheit und Wahrhaftigkeit.“
8. Resilienz und Verarbeitung
Was bei der Bewältigung der eigenen Geschichte hilft
Nicht alle Kriegskinder konnten sich im Laufe ihres Lebens vom Erbe ihrer frühen Erfahrungen befreien. Vielen fügte das Erlebte anhaltenden Schaden zu, das haben wir in den letzten Kapiteln exemplarisch gesehen. Anderen wiederum gelang es viel besser, mit belastenden Erfahrungen umzugehen: So ist unsere Gesellschaft heute geprägt von Kriegskindern, die trotz schwieriger erster Lebensjahre zu widerstandsfähigen Erwachsenen heranwuchsen. Prominente Beispiele finden sich etwa in der Politik. Wolfgang Thierse, geboren 1943, floh als Kleinkind mit seiner Familie vor der russischen Armee aus dem brennenden Breslau bei 16 Grad unter Null und 50 Zentimeter Neuschnee. Der charismatische SPD-Abgeordnete ist heute Bundestagsvizepräsident. Der verstorbene Johannes Rau, Jahrgang 1931, musste als 12-Jähriger im zerstörten Wuppertal helfen, Leichen zu bergen. Die Krönung seiner politischen Karriere war die Ernennung zum Bundespräsidenten, ein Amt, in dem er sehr beliebt war. Auch sein Nachfolger Horst Köhler, geboren 1943, blickt auf eine belastende Kindheit zurück: Als Kleinkind floh er mit der Mutter und drei weiteren Geschwistern aus Ostpolen, später hauste die Familie vier Jahre lang in Flüchtlingslagern.
Natürlich ist beruflicher Erfolg kein Gradmesser für psychische Gesundheit. Aber es ist doch anerkennenswert, wie die drei Politiker es schafften, ihren Lebensweg trotz ihrer belastenden Kindheitserfahrungen den eigenen Vorstellungen entsprechend zu gestalten. Ihre Biographien zeigen: Menschen gehen unterschiedlich mit schwierigen Erfahrungen um. Was den einen stark prägt, mag vom anderen schnell überwunden werden. Dies gilt natürlich auch für die Kinder der Kriegskinder: Nicht jedes miteinem kriegstraumatisierten Elternteil aufgewachsene Kind übernimmt zwangsläufig die Ängste von Mutter oder Vater. Doch worin liegt das Geheimnis dieser besonderen Widerstandsfähigkeit? Wie können wir sie erwerben? Und was hilft bei der Auseinandersetzung mit der eigenen Familiengeschichte? In diesem Kapitel möchte ich zeigen, dass wir unseren Prägungen nicht zwangsweise ausgeliefert sind – sondern selbst auch etwas tun können, um belastende Lebenserfahrungen zu verarbeiten.
In Teilen hängt unsere psychische Widerstandsfähigkeit zunächst von unserer genetischen Disposition ab: Manche Menschen sind besonders verletzlich und haben ein erhöhtes Risiko, unter der Einwirkung äußerer Stressfaktoren seelisch zu erkranken. Gibt es bereits psychische Krankheiten in der Familiengeschichte, sind sie besonders gefährdet. Zum anderen sind unsere frühen Prägungen ausschlaggebend. Der Grundstein für Resilienz – also die Fähigkeit, trotz belastender Erfahrungen seelisch gesund zu bleiben – wird offenbar bereits in frühen Jahren gelegt.
In den 1970ern erkannte die deutsch-amerikanische Entwicklungspsychologin Emmy E. Werner, dass resiliente Kinder vor allem eines auszeichnet: Die stabile Bindung an eine
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