Wir Kinder Vom Bahnhof Zoo
in der Tür, aber ich sah sie gar nicht. Ich sah sie erst, als sie sich zwischen meinen Vater und mich warf. Sie schlug mit Fäusten auf meinen Vater ein.
Er war völlig von Sinnen. Er prügelte meine Mutter auf den Flur. Ich hatte plötzlich mehr Angst um meine Mutter als um mich. Ich ging hinterher. Meine Mutter versuchte ins Badezimmer zu fliehen und die Tür vor ihm zuzumachen. Aber mein Vater hielt sie an den Haaren fest. In der Badewanne war wie an jedem Abend Wäsche eingeweicht. Denn zu einer Waschmaschine hatte es bisher bei uns nicht gereicht. Mein Vater stieß den Kopf meiner Mutter in die volle Badewanne. Irgendwie kam sie wieder frei. Ich weiß nicht, ob mein Vater sie losließ oder ob sie sich selbst befreite.
Mein Vater verschwand leichenblass im Wohnzimmer. Meine Mutter ging zur Garderobe und zog sich den Mantel an. Ohne ein Wort zu sagen, ging sie aus der Wohnung.
Das war wohl einer der schrecklichsten Momente in meinem Leben, als meine Mutter einfach, ohne ein Wort zu sagen, aus der Wohnung ging und uns alleinließ. Im ersten Moment dachte ich nur, nun kommt er wieder und schlägt weiter. Aber im Wohnzimmer blieb es ruhig bis auf den Fernseher, der lief.
Ich holte meine Schwester zu mir ins Bett. Wir umklammerten uns. Meine Schwester musste pinkeln. Sie traute sich nicht ins Badezimmer und zitterte. Sie traute sich aber auch nicht, ins Bett zu machen, denn darauf stand Prügel. Irgendwann habe ich sie an die Hand genommen und ins Badezimmer gebracht. Mein Vater sagte aus dem Wohnzimmer »Gute Nacht« zu uns.
Am nächsten Morgen weckte uns niemand. Wir gingen nicht zur Schule. Irgendwann vormittags kam meine Mutter zurück. Sie sagte kaum ein Wort. Sie packte ein paar Sachen von uns zusammen, steckte Peter, den Kater, in eine Tasche und sagte mir, ich solle Ajax an die Leine nehmen. Dann sind wir zur U-Bahn. Die nächsten Tage haben wir bei einer Arbeitskollegin meiner Mutter in einer kleinen Wohnung gewohnt. Meine Mutter erklärte uns, dass sie sich scheiden lassen wolle.
Die Wohnung der Arbeitskollegin war zu klein für meine Mutter, meine Schwester, Ajax, Peter und mich. Die Kollegin jedenfalls tat nach ein paar Tagen ganz schön genervt. Da packte meine Mutter wieder die paar Sachen, wir nahmen die Tiere und fuhren zurück zur Gropiusstadt.
Mein Vater kam in die Wohnung, als meine Schwester und ich gerade in der Badewanne saßen. Er ging zu uns in das Badezimmer und sagte in so ganz normalen Ton, so, als wäre überhaupt nichts los: »Warum seid ihr denn weggegangen? Ihr habt es doch wirklich nicht nötig, bei fremden Leuten zu schlafen. Wir drei hätten es uns schon schön gemacht.« Meine Schwester und ich sahen uns nur blöd an. Mein Vater tat an dem Abend so, als ob er meine Mutter gar nicht sähe. Dann guckte er auch an uns vorbei, als wären wir gar nicht da. Und er sagte auch kein Wort mehr zu uns. Das war irgendwie schlimmer als die Schläge.
Mein Vater schlug mich nie wieder. Aber dass er jetzt so tat, als gehöre er gar nicht mehr zu uns, war schrecklich. Jetzt spürte ich erst richtig, dass er mein Vater war. Ich hatte ihn ja nie gehasst, sondern nur Angst vor ihm gehabt. Ich war auch immer stolz auf ihn gewesen. Weil er tierlieb war, und weil er ein so starkes Auto hatte, seinen 62er Porsche. Nun war er irgendwie nicht mehr unser Vater, obwohl er noch mit uns in der kleinen Wohnung wohnte. Dann passierte noch etwas sehr Schlimmes: Ajax, meine Dogge, bekam einen Bauchhöhlendurchbruch und starb. Es war niemand da, der mich tröstete. Meine Mutter war ganz mit sich und der Scheidung beschäftigt. Sie weinte viel und lachte überhaupt nicht mehr. Ich fühlte mich sehr einsam.
Als es eines Abends klingelte und ich die Tür aufmachte, war es Klaus, ein Freund meines Vaters. Klaus wollte meinen Vater zu einer Kneiptour abholen. Aber der war schon los.
Meine Mutter bat den Typen rein. Er war viel jünger als mein Vater. So Anfang zwanzig. Und dieser Klaus fragte dann meine Mutter plötzlich, ob sie nicht mit ihm essen gehen wolle. Meine Mutter sagte sofort: »Ja, warum nicht.« Sie zog sich um, ging mit dem Mann los und ließ uns allein.
Andere Kinder wären vielleicht sauer gewesen, hätten Angst um ihre Mutter gehabt. Ich hatte wohl für einen Moment auch solche Gefühle. Aber dann freute ich mich ehrlich für meine Mutter. Sie hatte richtig fröhlich ausgesehen, als sie gegangen war, auch wenn sie das nicht so gezeigt hatte. Meine Schwester fühlte ähnlich wie ich und sagte:
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