Wir Kinder von Bergen-Belsen
deshalb müssten wir uns noch ein bisschen gedulden. Im Lauf des Vormittags kamen immer mehr Leute zur Schule und nahmen Kinder mit zu sich nach Hause. Jackie ging mit einem Ehepaar nach Den Bosch, einer kleinen Stadt nicht weit entfernt. In all dem Durcheinander kam Inge zu mir und sagte: »Hetty, ich habe eine Mitfahrgelegenheit nach Amsterdam, ich fahre gleich mit Gretel und Captain Gazan los.«
Ich war geschockt.
»Warum, Inge, ich will nicht, dass du gehst«, rief ich. Mir wurde klar, wie sehr ich an ihr hing. »Bitte, Inge, geh nicht«, bettelte ich.
»Ich gehe jetzt, Hetty. Ich muss herausfinden, ob mein kleines Mädchen noch sicher bei meinem Arzt in Amsterdam ist«, sagte sie und drehte sich zu dem Lastwagen um.
Als er losfuhr, strömten mir die Tränen über das Gesicht, und ich hatte das Gefühl, mir bräche das Herz. Inge winkte mir durch das offene Fenster zum Abschied zu.
Jaap kam später am Morgen und sagte, er würde uns ebenfalls heute verlassen, um zu seiner Familie in Arnhem zurückzukehren. Wie traurig war ich, als ich mich von dem guten Freund verabschieden musste, der unsere Herzen und unser Vertrauen mehr als jeder andere Befreier gewonnen hatte. Ich wusste, dass ich ihn nie wiedersehen würde, aber ich wusste auch, dass die Erinnerung an ihn für immer in meinem Herzen bleiben würde.
Schwester Luba war nicht glücklich. Sie war unruhig und hegte keinerlei freundliche Gefühle für die Behörden, die es uns selbst überließen, für uns zu sorgen. Immer noch war kein anständiges Essen gekommen und richtige Waschgelegenheiten standen auch nicht zur Verfügung. Die Schlafquartiere waren ekelhaft und voller Flöhe und Läuse, die uns bald plagten. Uns erschreckte die Situation weniger, schließlich waren wir an Schlimmeres gewöhnt, aber Schwester Luba war ganz außer sich und fand keine Entschuldigung für die unhygienischen Bedingungen. Sie war auch wütend, mit uns nach Holland gekommen zu sein, weil die Kinder, die bei Pflegefamilien untergebracht waren, sie nun nicht mehr brauchten.
Ich konnte hören, wie sie draußen in dem kleinen Vorzimmer mit Iesie und Max sprach. Iesie protestierte laut gegen irgendwas und Max stimmte ihm offensichtlich zu. Meine Neugier war geweckt, deshalb ging ich zu ihnen. Die Gesichter von Max und Iesie waren rot vor Aufregung, während Schwester Luba sehr entschlossen wirkte.
Ich schaute fragend von einem zum anderen. »Sie will zurück nach Bergen-Belsen«, brach es aus Iesie heraus. »Sie will nach Bergen-Belsen zurück. Bitte, rede mit ihr, Hetty, sag ihr, wir wollen nicht, dass sie weggeht.«
Mein Herz zog sich zusammen.
»Nein, Schwester Luba«, sagte ich. »Du darfst nicht gehen. Du musst bei uns bleiben.«
Aber ich sah ihr an, dass sie ihren Entschluss gefasst hatte. Wir waren verzweifelt. Wenn wir sie verloren, würden wir unsere Sicherheit verlieren. Alle Menschen, die eine wichtige Rolle in unserem Leben gespielt hatten, waren weggegangen. Alle Schwestern in Bergen-Belsen, Inge, Jaap und jetzt Luba. Unsere Welt brach zusammen, doch all unsere Bitten und unsere Tränen halfen nichts. Schwester Luba wollte uns verlassen, weil sie sich nicht mehr gebraucht fühlte.
Als Dr. van Waldre de Bordes später am Nachmittag kam, erzählten wir ihm die traurige Nachricht, dass Schwester Luba zurückkehren wollte. Wir flehten ihn an, sie zu einer Änderung ihres Entschlusses zu überreden. Er ging zu ihr und gab ihr die Kopie eines Briefes, den er an den Chef der Sicherheitsbehörde der Niederlande gerichtet hatte. In diesem Brief bat er um die Erlaubnis, dass Schwester Luba bleiben dürfe, denn sie habe in
Bergen-Belsen über vierzig Kinder vor dem Verhungern gerettet.
Schwester Luba nahm den Brief, bestand aber weiter darauf, nach Bergen-Belsen zurückzukehren. Eine Stunde lang versuchte der Doktor, sie zu überreden und die Gründe herauszufinden, warum sie gehen wollte. Schwester Luba erzählte ihm von ihrer Enttäuschung darüber, wie wir empfangen worden waren, wie man uns in diese Schule gestopft und uns hier uns selbst überlassen hatte. Sie sagte ihm auch, dass sie nicht länger gebraucht würde, da alle Kinder gegangen seien, außer den paar, die sie nicht hatten verlassen wollen. Der Doktor versprach, bis nächste Woche ein wunderschönes großes Haus zu besorgen und alle Kinder zurückzubringen, aber nichts konnte Schwester Luba von ihrem Entschluss abbringen. Als der Doktor ging, hatte er Schwester Luba versprochen, alles für ihre
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