Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wir Kinder von Bergen-Belsen

Wir Kinder von Bergen-Belsen

Titel: Wir Kinder von Bergen-Belsen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hetty E. Verolme
Vom Netzwerk:
deren Namen ich immer noch nicht kannte, hatten wir genug zu essen. Die ständige Sorge, wo wir Nahrung herbekommen könnten, um unser Überleben zu sichern, war von uns genommen. Die Kinder hatten, wie nur Kinder es können, akzeptiert, nicht mehr bei ihren Müttern zu sein, und mich als Ersatz angenommen. Bei jedem Missgeschick kamen sie zu mir, um sich trösten zu lassen. Und wenn ein Problem auftauchte, musste ich es lösen. Sie vertrauten mir bedingungslos, und ich tat alles, sie nicht zu enttäuschen.
    Wir hatten seit Tagen niemanden gesehen. Es schien, als habe die SS vergessen, dass es uns gab. Dann, am neunten Tag nach unserer Ankunft, kamen die beiden Frauen und teilten uns mit, dass am nächsten Tag alle Kinder bis einschließlich dreizehn Jahren in eine neue Baracke umziehen sollten, dort würden sie dann für sie sorgen. Sie sagten mir, das Gepäck würde abgeholt und wir sollten am nächsten Morgen bis acht Uhr bereitstehen. In der Baracke entstand Tumult. Die Kinder hatten Angst. Gerade eben hatten sie sich eingewöhnt und fingen an, sich einigermaßen sicher zu fühlen. Den ganzen Tag über kamen sie zu mir, um sich zu versichern, dass ich da war, und als sie herausfanden, dass ich nicht mit ihnen kommen könnte, da ich schon vierzehn Jahre alt war, gerieten sie in Panik. Ich versuchte sie zu  beruhigen, so gut ich konnte, und zeigte ihnen ein glückliches Gesicht, aber in mir selbst sah es nicht so aus, da auch Max und Jackie mit ihnen gehen mussten. Ich verbarg meine Angst vor den Kindern und besprach die Situation mit Eva, deren kleine Schwester ebenso mit den anderen gehen musste. Ich fühlte mich elend, denn auch Iesie und Loukie gehörten zu dieser Gruppe.
    Eva und ich machten uns daran, die Besitztümer der Kinder zu sortieren und sie in die jeweiligen Koffer zurückzupacken, damit sie am nächsten Morgen bereit wären. Diese Beschäftigung nahm den halben Nachmittag in Anspruch. Die Koffer wurden ordentlich in der Mitte des Raums aufgestapelt. Eva und ich trauten den beiden Frauen nicht und behielten ein paar Kleidungsstücke als Vorrat zurück. Diese Sachen legten wir oben auf meine Doppelpritsche, in eine Ecke, und versteckten sie unter einer Decke. Das bedeutete, dass Loukie und Jackie diese Nacht woanders schlafen mussten. Wir gingen früh ins Bett, erschöpft von den Aufregungen des Tages.
    Überraschenderweise schliefen die Kinder gut, ich allerdings nicht. Stundenlang starrte ich durch das Fenster neben meinem Bett. Die Dunkelheit spiegelte meine Gefühle wider. Kein Stern schien. Ihr Licht hätte mir vielleicht etwas Hoffnung für die Zukunft geschenkt. Die Stunden gingen vorbei und mich bedrängte immer mehr die Unsicherheit unserer Existenz. Max rührte sich neben mir und machte die Augen auf.
    »Kannst du nicht schlafen?«, flüsterte er.
    »Nein«, antwortete ich. »Versprich mir, Max, dass du auf Jackie aufpasst, wenn ich es nicht mehr tun kann.«
    Max griff nach meiner Hand, die auf der Decke lag.
    »Ich verspreche es«, sagte er. »Und versuch jetzt zu schlafen. Du musst morgen stark sein.«
    Ich schaffte es, ihn anzulächeln, denn mir wurde klar, dass er sich große Sorgen machen musste, weil ich zurückblieb.
    »Ich werde es versuchen«, sagte ich. »Jetzt schlaf weiter.«
    Max drehte sich zur Seite und schon nach wenigen Sekunden schlief er friedlich.
    Mir gelang es nicht, ich lag wach und war froh, als der Morgen graute. Vorsichtig, um Max nicht aufzuwecken, glitt ich vom Bett und verließ die Baracke durch die Hintertür, die ich leise hinter mir schloss. Ich konnte sehen, wie der Himmel im Osten hell und der Zaun und die Wachttürme langsam sichtbar wurden. Es war so ruhig hier draußen, nur die Geräusche der Wachmänner und ihrer Hunde unterbrachen die Stille, wenn sie am Zaun entlang patrouillierten. Mit dem Rücken gegen unsere Barackenwand gelehnt, atmete ich tief die kühle, frische Luft ein. Dabei hob ich den Kopf zum Himmel und betete zu Gott, er möge meine Brüder und all die Kinder, die in wenigen Stunden weggehen würden, beschützen. Tränen liefen über mein Gesicht. Ich fühlte mich so hilflos. Die Tür neben mir ging auf und Emile kam heraus. Er stand gewöhnlich früh auf und war sehr verblüfft, mich so früh am Morgen zu treffen. Bei seinem Anblick fasste ich mich wieder.
    »Wohin gehst du?«, fragte ich.
    Er zögerte, doch dann sagte er: »Zum Waschhaus.« Das bedeutete, zur Latrine.
    »Bleib nicht lange«, sagte ich. »Wir frühstücken heute

Weitere Kostenlose Bücher