Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wir Kinder von Bergen-Belsen

Wir Kinder von Bergen-Belsen

Titel: Wir Kinder von Bergen-Belsen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hetty E. Verolme
Vom Netzwerk:
sagte sie.
    Jetzt waren sie alle wieder draußen, und wir brauchten ein paar Minuten, bis wir uns wieder gefangen hatten. Auf jeden Fall waren wir froh, dass sie weg waren.
    »Was hältst du von allem?«, fragte mich Iesie.
    »Keine Ahnung«, antwortete ich. »Ich hoffe nur, dass wir nicht wieder umziehen müssen.«
    Die Hintertür war offen, und wir konnten eine Arbeitskolonne von Frauen sehen, die auf die leeren Baracken zugingen.
    »Es scheint, dass sie belegt werden sollen«, sagte Iesie. »Ich gehe mal raus, ich will sehen, was los ist.«
    »Tu das«, sagte ich. »Ich bleibe hier, bei den Kindern. Wenn du draußen ein Kind siehst, schicke es zurück. Irgendwas könnte passieren, wir sollten lieber drinnen bleiben. Offensichtlich sind wir jetzt die Schützlinge von irgendwelchen Prominenten. «
    Nach diesen warnenden Worten ging Iesie mit Loukie und Max hinaus.
    Gegen drei waren die meisten Kinder wieder in der Baracke. Ich zählte sie und stellte fest, dass drei fehlten. Es war kalt geworden, graue Wolken hingen tief am Himmel. Ich war unruhig wegen der drei Kinder, die nicht zurückgekommen waren, und erkundigte mich bei den anderen nach ihnen. Erika und ein anderes Mädchen waren angeblich auf dem Klo, dort waren sie zuletzt gesehen worden. Ich schickte zwei Jungen los, um sie zu holen. Zehn Minuten später kamen sie mit den Mädchen zurück. Ich schalt sie und sagte, sie dürften auf keinen Fall so lange wegbleiben, damit ich wüsste, dass sie in Sicherheit seien. Nun fehlte nur noch Jackie, und niemand hatte eine Ahnung, wo er war. Wie habe ich nur so dumm sein können, nicht besser auf ihn aufzupassen, dachte ich, ich habe es Mama doch versprochen.
    Jackie war ein ruhiger Junge, der gern herumwanderte. Sogar früher, zu Hause, war er oft für Stunden verschwunden und hatte damit unserer Oma Sorgen gemacht. Doch zu unserer großen Erleichterung war er immer heil und sicher zurückgekommen. Ich konnte mich noch genau an einen Tag erinnern, als ein Leierkastenmann in unserer Straße spielte. Jackie war damals etwa fünf Jahre alt und folgte dem Leierkastenmann von einer Straße zur nächsten. Erst am späten Nachmittag kam er zurück. Die Schläge, die er von unserer sonst so sanften Oma bekam, dienten nur dazu, ihre Angst abzureagieren, Jackie lernte nichts daraus. Ich erinnerte mich auch genau daran, wie es war, als er sich mein funkelnagelneues Fahrrad geliehen hatte, um einmal um den Block zu fahren, und nach fünf Stunden immer noch nicht zurück war. Nie hatte ich unsere Oma in solch einem Zustand erlebt. Sie stellte sich Jackie vor, wie er verletzt auf der Straße lag, und andere schlimme Dinge und sagte ununterbrochen: »Was soll ich denn eurer Mutter sagen?« Ich war auch aufgebracht, aber meine Sorge galt vor allem meinem wunderbaren Fahrrad. Jackie war zu klein, um auf dem Sattel zu sitzen, er konnte nur auf den Pedalen stehend fahren und schaute kaum über den Lenker hinaus. Je später es wurde, umso mehr wuchs unsere Sorge. Gegen fünf, es fing schon an zu dämmern, kam Jackie zurück. Überflüssig zu sagen, dass wir ihm die Hölle heiß machten.
    Ich kehrte zur Gegenwart zurück und beschloss, noch eine halbe Stunde zu warten, bevor ich mir ernsthaft Sorgen machen würde. Genau dann ging die Tür zum Korridor auf. Zwei Frauen kamen mit einem Essensbehälter herein. Sie stellten ihn neben die anderen, und eine Frau fragte mit einer Handbewegung, ob sie die alten Behälter mitnehmen könnten. Ich bedeutete ihr, dass sie den einen dalassen sollten. Sie verstand und nahm den leeren Behälter, dann verschwanden die Frauen wieder. Kurz danach kam Jackie zurück. Ich schimpfte mit ihm, wusste aber, dass es nutzlos war.
    Eva und Iesie gaben die Näpfe aus und ich verteilte das Abendessen. Die Suppe war nur noch lauwarm, aber das störte uns nicht. Nach dem Essen wurden die Näpfe in einer Ecke aufgestapelt. Wir würden sie am nächsten Morgen spülen, jetzt war es zu dunkel, um noch hinauszugehen. Alle bereiteten sich darauf vor, ins Bett zu gehen.
    Es war noch früh am Abend, aber wir hatten nichts anderes zu tun, als auf dem kalten Boden herumzusitzen. Unsere Kleinsten waren versorgt und schliefen friedlich. Wie sicher wir uns hier in diesem Raum doch fühlen, dachte ich, als ich in Kleidern unter die Decke kroch. Vielleicht war diese eine Frau, deren Namen ich nicht kannte, unser Schutzengel. Tief in meinem Herzen hatte ich Angst vor ihr. Ich zweifelte nicht daran, dass sie sehr hart sein konnte.

Weitere Kostenlose Bücher