Wir Kinder von Bergen-Belsen
hinauszögern, deshalb sagte ich zu den drei Jungen, sie sollten ihre Näpfe holen und sich selbst Suppe nehmen, was sie auch ohne Zögern taten. Als alle fertig waren, sagte ich ihnen, sie sollten die Näpfe aufeinander stellen, und schickte drei Jungen und drei Mädchen zum Wasserhahn, um Näpfe und Löffel zu spülen. Zwei andere Jungen wollten auch helfen, deshalb bot ich ihnen an, ebenfalls ein paar Näpfe zum Wasserhahn zu tragen. Das Wetter war angenehm, die Sonne schien. Die kühle Luft des frühen Morgens war verschwunden.
»Lasst die Hintertür offen, wenn ihr hinausgeht«, sagte ich, als die kleine Gruppe loszog. So, dachte ich, diese Kinder sind jetzt aus dem Weg. Schnell rief ich Iesie, Max, Loukie, Bram und Eva zusammen und wir kletterten auf mein Bett. Wir saßen im Halbkreis und machten sehr ernste Gesichter, denn die Verantwortung, mit dieser Situation umzugehen, lastete jetzt auf unseren jungen Schultern. Ich rief Emile herauf, er setzte sich uns gegenüber. Ich betrachtete sein Gesicht. Emile war ein ziemlich gut aussehender Junge. Er hatte hübsche, schwarze Haare und machte einen sehr anständigen Eindruck. Doch zugleich hatte er etwas an sich, das ihn distanziert und unzugänglich aussehen ließ. Ich sagte zu ihm, wir würden Kekse aus dem Koffer vermissen, und es werde behauptet, er habe sie gestohlen. Zu unserer Überraschung gab Emile das sofort zu. Er zeigte keine Reue, sein Gesicht blieb ausdruckslos. Ich fragte, warum er das getan habe, aber er zuckte nur mit den Schultern, um anzudeuten, dass er es nicht wisse.
»Du weißt, dass du etwas Schlimmes getan hast?«, fragte Iesie.
Emile antwortete nicht, sondern starrte vor sich hin. Wir wussten nicht, was wir sagen sollten, deswegen sagte ich: »Du gehst jetzt lieber wieder hinunter, Emile. Aber lauf nicht weg.«
Emile verließ meine Pritsche und wir fünf besprachen leise die Situation. Es ärgerte mich ungemein, zu wissen, dass Emile dasselbe schon früher, im Sternlager, gemacht hatte, schließlich waren damals Max und Jackie verdächtigt worden, bis man Emile erwischt hatte. Wir konnten es ihm nicht einfach durchgehen lassen, das wäre kein gutes Beispiel für die anderen Kinder. Andererseits war mir klar, dass wir, egal welche Strafe wir uns auch ausdachten, Emiles Neigung nicht heilen würden.
Es wurden die verschiedensten Vorschläge gemacht und wieder verworfen, bis Iesie sagte: »Was meint ihr dazu, wenn wir ihn eine Woche lang jeden Morgen den Topf ausleeren lassen? Das ist eine unangenehme Aufgabe, vielleicht wird ihm das eine Lehre sein.«
Wir stimmten zu, das war der beste Vorschlag. Loukie rief Emile wieder zu uns herauf und wir teilten ihm unsere Entscheidung mit. Ich fragte Emile, ob er einverstanden sei, und er sagte »Ja«. Dann löste sich unser »Gericht« auf und Bram, Emile, Max, Loukie und Eva stiegen hinunter. Iesie und ich saßen noch eine ganze Weile zusammen und diskutierten den Vorfall. Wir beschlossen, Emile zukünftig besser im Auge zu behalten.
Es war etwa elf Uhr, als die Tür aufging und die beiden Frauen, die uns schon einmal besucht und die Kartoffelsuppe gebracht hatten, hereinkamen, zusammen mit zwei weiteren Frauen. Wir spürten sofort einen Hauch »Autorität«. Später erfuhren wir, dass die eine Frau die stellvertretende Lagerälteste für alle Häftlinge war. Sie war eine sehr erfahrene Frau, die lange Jahre in Auschwitz gewesen war. Sie war eine Prominente und eine Kapo. Kapos wurden wegen ihrer brutalen Behandlung von Gefangenen gefürchtet. Die andere Frau war eine Ärztin.
Die Kinder, die bisher fröhlich geplappert hatten, wurden still. So jung sie waren, spürten sie doch die Gefahr. Ich wusch dem kleinen Jonnie gerade das Gesicht, als sie hereinkamen, und drückte ihn an mich, um ihn zu schützen, aber die Frauen achteten nicht besonders auf uns. Nachdem sich die größere Frau flüchtig umgesehen hatte, sprach sie Polnisch mit der anderen, was wir natürlich nicht verstanden. Ich konnte sehen, dass die kleinere Frau auf uns deutete und überredend auf die Kapo einsprach. Ich bemerkte auch, dass sie sich ihr gegenüber sehr respektvoll verhielt. Sie diskutierten eine Weile, dann drehten sie sich zum Gehen. In der ganzen Zeit hatte mich die kleinere Frau kein einziges Mal angeschaut, geschweige denn angesprochen. Aber als die Frauen an mir vorbeigingen, da drehte sie sich zu mir um und sagte: »Braucht ihr noch Suppe?«
»Ja«, sagte ich, ohne zu zögern.
»Ich bringe sie später«,
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