Wir Kinder von Bergen-Belsen
groß für sein Alter. Seine Wangen unter den hohen Backenknochen waren eingefallen, sein Kinn spitz. Das ließ sein Gesicht dreieckig aussehen. Er vermied den Blickkontakt, wenn ich mit ihm sprach. Irgendwie war er seltsam, und ich hatte das Gefühl, keinen Kontakt zu ihm zu haben.
»Ich frage mich, wie es Bella geht«, sagte Bram und schaute sich im Zimmer um.
Er sah traurig aus, und ich überlegte, dass ich ihn vielleicht falsch beurteilte. Er macht sich Sorgen um seine Schwester, dachte ich. Dann verließ Bram die Baracke und ich war wieder allein.
Einige Stunden später beschloss ich, einen Spaziergang zu machen. Bisher war ich nicht weiter gekommen als zum Latrinenblock. Bevor ich die Baracke verließ, bedeckte ich die Koffer mit Decken und hoffte, dass niemand hereinkommen und sie entdecken würde. Ich wusste, dass ich ein Risiko einging, indem ich die Zuckergläser allein ließ, aber ich konnte nicht die ganze Zeit drinnen bleiben.
Das Wetter war trüb, die grauen Wolken ließen die Sonne nicht durch. Unser Teil des Lagers sah verlassen aus. Vor dem Latrinenblock sah ich eine Frau am äußeren Wasserhahn. Als ich näher kam, hob sie den Kopf. Ich blieb stehen, um ein bisschen mit ihr zu sprechen, aber sie wandte sich wieder ihrer Arbeit zu und ignorierte mich. Ich beschloss weiterzugehen und folgte der Straße in die Richtung, die Eva mir am Abend zuvor gezeigt hatte und die zum Krankenhaus führte.
Nichts war zu hören, es war unheimlich. Ich hatte fast das Gefühl, allein auf der Welt zu sein. Ich kam zu dem Gebäude, das ich für das Krankenhaus hielt, und blieb stehen, um es zu betrachten. Saubere rote Backsteine, hohe Fenster und kein Lebenszeichen. Wo waren alle? Langsam fühlte ich mich immer unbehaglicher. Dann ging eine Tür auf, und ein großer SS-Offizier kam heraus, zusammen mit einer Frau, die ein tadelloses blaues Kostüm trug. Die beiden waren in ein Gespräch vertieft und bemerkten mich nicht. Ich beschloss, dass es besser war, weiterzugehen.
Hinter den Bäumen tauchten zwei Frauen auf und kamen auf mich zu. Sie gingen Arm in Arm, wie bei einem Sonntagsspaziergang. Als sie näher kamen, deutete eine der Frauen auf mich.
»Das ist die Tochter von Maurice«, sagte sie.
Da erkannte ich sie: Tante Bet und Sonjas Mutter.
»Wie geht es dir, Schatz?«, fragte Sonjas Mutter. »Was tust du hier?«
Ich erzählte ihnen, wie mein Vater und meine Mutter weggeschickt worden waren und dass Max und Jackie am Tag zuvor in eine andere Baracke umgezogen waren.
»Wisst ihr, in welcher Baracke die Kinder sind?«, fragte ich.
Sonjas Mutter nickte. »Dort, hinter den Bäumen.« Und dann fragte sie: »Hast du was zu essen für uns, Hetty?«
»Nein«, sagte ich.
»Was ist mit Salz? Hast du ein bisschen Salz?«
Ich zögerte, als ich sie betrachtete. Tante Bet war in keinem guten Zustand. Sie war knochig und hatte noch kein Wort gesagt.
»Wartet hier«, sagte ich zu Sonjas Mutter. »Ich bringe euch ein bisschen Salz.«
Schnell ging ich zurück zu unserer Baracke. Mit einiger Mühe zog ich meinen Koffer zwischen den anderen Gepäckstücken heraus und klappte ihn auf. Ich schüttelte etwas Salz aus dem Glas auf ein Stück Papier und faltete es auf dieselbe Art, wie Papa es getan hatte, um Diamanten einzupacken. So würde kein Salzkorn verloren gehen. Als ich fertig war, ließ ich den Koffer auf dem Bett liegen, ich hatte nicht die Kraft, ihn wieder zwischen die anderen zu stellen. Die Tanten warteten noch immer da, wo ich sie verlassen hatte. Ich gab Sonjas Mutter das Päckchen mit Salz, die es schnell in ihrer Kleidung verbarg. Sie dankte mir sehr und ging dann mit Tante Bet davon. Es war das letzte Mal, dass ich Sonjas Mutter sah.
Nun setzte ich meinen Spaziergang fort und ging um die Bäume herum. Dahinter entdeckte ich drei Baracken. Ich blieb stehen. In welcher von ihnen waren die Kinder? Nichts gab mir einen Hinweis, dass sie überhaupt hier waren. Langsam ging ich näher. Die erste Baracke war verlassen, deshalb ging ich zur zweiten und spähte durch das Fenster. Es war die richtige. Die meisten Kinder saßen um einen großen Tisch, andere mitten im Zimmer auf dem Boden. Ein paar von den Kleinen weinten sich die Augen aus. Die kleinere Frau ging zu einem Kind hinüber, aber als sie sich zu ihm beugte, schrie es noch lauter. Die Frau richtete sich auf und entdeckte mich. Durch das Glas fragte sie, was ich hier tue. Ich sagte: »Bruder, Bruder.« Sie öffnete die Tür und ließ mich eintreten.
Ich
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