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Wir Kinder von Bergen-Belsen

Wir Kinder von Bergen-Belsen

Titel: Wir Kinder von Bergen-Belsen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hetty E. Verolme
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früh.«
    Er nickte und ging an mir vorbei.
    Ich schaute ihm eine Weile nach. Was für ein seltsamer Junge er doch ist, dachte ich. Was tut er so früh am Morgen? Was hat er jetzt vor? Wieder ging die Tür auf. Diesmal war es Loukie.
    »Ach, da bist du«, sagte er. »Alle suchen nach dir. Ein paar Kinder wollen schon ihr Frühstück.«
    Ich wischte mir schnell die Spuren meiner Tränen ab, um die Kinder nicht zu verwirren. Alle waren schon aufgestanden. Eva hatte die Kleinsten angezogen, die nun ordentlich in einer Reihe auf dem Boden saßen. Klugerweise hatte sie ihnen eine Decke untergelegt, denn der Boden war morgens sehr kalt. Ich wies Iesie und Bram an, den Essensbehälter zu öffnen, der am Vorabend angekommen war. Was für eine Überraschung! Er enthielt Reis, in Milch gekocht und mit viel Zucker. Das lenkte uns von unserem Umzug ab, wir waren hingerissen von diesem wunderbaren Essen. Bald hatten alle etwas bekommen, und wenn jemand einen Nachschlag wollte, ließ ich es diesmal zu.
    Nachdem die Näpfe gespült waren, packten wir sie in die Brotschachtel. Nun waren die Kinder bereit und eine unbehagliche Stille senkte sich über uns. Ich ging langsam die Reihe der Kinder entlang, kniete mich zu jedem Einzelnen hin und sagte ihm, es solle brav sein und den Schwestern gehorchen. Diesen Namen hatte ich mir für die beiden Frauen ausgedacht, Schwestern hörte sich vertraut und freundlich an. Sie brauchten keine Angst zu haben, sagte ich, die Schwestern würden ihnen zu essen geben, sie würden nie mehr hungrig sein.
    »Wirst du uns bald besuchen, Hetty?«, fragte ein kleines Mädchen.
    »Natürlich«, versprach ich und umarmte sie.
    Die letzte, kostbare Stunde schien schnell vergangen zu sein, denn plötzlich tauchten die beiden Frauen zusammen mit vier weiblichen Häftlingen auf. Weil ich die Kinder auf diesen Moment vorbereitet hatte, blieben sie ruhig und zeigten, wie ich gehofft hatte, keine Anzeichen von Panik. Ich sagte ihnen, sie sollten sich in einer Reihe aufstellen und den Frauen folgen. Iesie kam zu mir und umarmte mich. Er sparte nicht mit seinen Gesten.
    »Pass auf dich auf, Hetty«, sagte er und küsste mich auf beide Wangen.
    Ich nickte. Meine Kehle war wie zugeschnürt, ich konnte nicht sofort antworten, doch dann bekam ich irgendwie heraus: »Pass auf die Kinder auf, sie vertrauen dir.«
    »Das werde ich tun«, antwortete Iesie.
    Er ließ mich los. Ein Kind nach dem anderen verließ den Raum, nur Max und Jackie waren zurückgeblieben. Ich umarmte und küsste sie zum Abschied und begleitete sie zur Tür. Jackie hielt mich fest am Arm, und als ich seinen Griff löste, sagte ich, er sei nun ein großer Junge und müsse auf sich selbst aufpassen.
    »Halt dich warm, Schatz, und bleib bei Max. Er ist dein Bruder, ihr müsst zusammenhalten.«
    Ich gab jedem noch einen letzten Kuss, dann schickte ich sie den Kindern hinterher.
    »Ich werde euch besuchen«, rief ich ihnen nach.
    Max und Jackie drehten sich um und winkten, und ich winkte zurück und lächelte, doch als ich wieder in unserer Baracke war, fing ich an zu weinen. Ich war am Ende meiner Kraft. Ich stieg hinauf auf mein Bett und weinte, bis ich keine Tränen mehr hatte. Ich fühlte mich verloren und allein. Der Raum war leer, bis auf einige der Koffer, die von den weiblichen Häftlingen noch abgeholt werden mussten. Eva und Bram, die die Kinder begleitet hatten, waren noch nicht zurückgekommen. Hunderttausend Gedanken schossen mir durch den Kopf. Wo war mein Vater? Wo war meine Mutter? Und jetzt waren auch noch meine Brüder weg. Ich fühlte mich im Stich gelassen. Die Stille in der Baracke war mir unheimlich. Ich betrachtete die leeren Betten und begann wieder zu weinen.
    Die vier Frauen kamen, um die letzten Koffer zu holen. Sie sahen schrecklich aus in ihren grau gestreiften Anzügen. Ihre Wangen waren hohl, ihre Augen saßen tief in den Höhlen. Sie machten mir Angst mit ihren klauenartigen Händen, die nach den Koffern griffen. Sie waren so dünn. Woher haben sie die Kraft, so schwer zu arbeiten?, fragte ich mich. Draußen, vor der Tür, konnte ich einen Kapo stehen sehen, der ihnen befahl, sich zu beeilen, und sie gehorchten wie Marionetten. Sie nahmen auch den Essensbehälter und den sauberen Topf. Ich war froh, dass ich zurückgeblieben war, sonst hätten sie bestimmt auch die Koffer auf meinem Bett genommen. Nachdem sie verschwunden waren, kroch ich unter die Decke und versuchte, ein bisschen Ruhe zu finden. Ich spürte nicht den

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