Wir Kinder von Bergen-Belsen
neben der anderen standen. Dies hier sah aus, als wäre es ursprünglich einmal als Feriensiedlung geplant gewesen, dachte ich, während ich die Straße entlangging, die sich durch das Lager schlängelte. »Was ist bloß daraus geworden«, murmelte ich vor mich hin.
Als ich am Leichenhaus vorbeiging, konnte ich sehen, dass sich der Leichenberg jetzt über eine Fläche ausdehnte, die etwa einem Fußballplatz entsprach. Links von mir waren die beiden Krankenbaracken. Max und Jackie, die unerlaubt abgehauen waren, hatten mir ein paar Tage vorher erzählt, dass Tante Bet dort war, weshalb ich dem Gebäude jetzt einen besonderen Blick zuwarf, als ich vorbeiging. Und tatsächlich konnte ich sie sehen, wie sie auf einem Bett am Fenster saß. Ich blieb stehen und winkte. Erst reagierte sie nicht, dann erkannte sie mich und winkte zurück. (Ab da winkte ich ihr immer zu, wenn ich vorbeiging, bis zu dem Tag, an dem sie nicht mehr da war.) Ich ging weiter und ließ mir Zeit, denn es war das erste Mal, dass ich so lange allein durch das Lager ging.
Nicht weit entfernt schnippelten zwei Gefangene an einer Leiche herum. So schnell, wie ich konnte, rannte ich weiter, um diesem niederschmetternden Anblick zu entfliehen. Trotz der vielen barbarischen Dinge, die ich gesehen hatte, war ich fassungslos vor Entsetzen. Nie, egal was passierte, würde ich so etwas Kannibalisches tun. Nie! Nie!
Kurz vor dem Tor des Frauenlagers angelangt, hörte ich Schreien und Weinen und sah dann etwa zwanzig Frauen, die in einer Reihe aufgestellt waren. Eine nach der anderen musste sich mit heruntergezogener Hose über einen Stuhl beugen. Eine Kapo hielt eine lange Peitsche in der Hand und schlug aus voller Kraft den Frauen aufs Gesäß. Ich konnte das Surren der Peitschenschnur hören, bevor sie traf. Alle waren gezwungen, bei dieser Grausamkeit zuzuschauen, während daneben eine breit lächelnde Aufseherin stand.
Ich lief weiter zum Tor, um diesem teuflischen Anblick zu entfliehen. Das Schreien der Frauen würde leiser werden, wenn ich das Tor erst einmal passiert hatte. Schließlich ging ich langsamer, um wieder zu Atem zu kommen. Nun konnte ich, Gott sei Dank, nichts mehr vom Frauenlager hören.
Der Teil des Lagers, in den ich jetzt gekommen war, schien friedlich. Niemand war zu sehen. Ich war allein und traf keine Menschenseele. Auch am Tor war niemand. Zwischen den Bäumen hindurch konnte ich einen Blick auf die Straße werfen, über die wir nach Bergen-Belsen gekommen war. Das schien so lange her zu sein, aber in Wirklichkeit lag es nur ein Jahr und zwei Monate zurück.
Als ich mich dem SS-Kontrollpunkt näherte, klopfte mein Herz. Das war die Probe, ob ich allein durch das Lager gehen konnte oder nicht. So, wie ich es auch mit Schwester Luba getan
hatte, ging ich zu dem kleinen Gebäude hinüber, wo die SS jeden kontrollierte, der kam oder ging.
Zwei SS-Offiziere saßen hinter einem Tisch am offenen Fenster und beobachteten die Straße. Ich ging zu ihnen hin. Sie schauten mich an und einer fragte: »Wohin gehst du?«
»Ich bin vom Kinderhaus und möchte zu Herrn Fritz im Pro-viantlager.«
»Hast du eine Nummer?«
»Ja, Nummer 10564.«
»Du kannst passieren«, sagte er, nachdem er etwas in ein Buch notiert hatte.
Das war leicht, dachte ich, als ich durch das Tor ging. Nun war es nicht mehr weit.
Das Vorratslager war links, auf der anderen Straßenseite. Ich hatte Glück, Fritz stand in der Tür, als ich ankam. Ich packte den Stier bei den Hörnern.
»Guten Morgen, Herr Scharführer. Können Sie mir bitte eine Salami für das Kinderhaus geben?«
Er schaute auf mich herunter und ich schenkte ihm mein schönstes Lächeln.
»Gehörst du zum Kinderhaus?«, fragte er.
»Jawohl, Herr Scharführer.«
Er drehte sich um und rief irgendjemandem zu, er solle mir eine Salami bringen. Der Mann fragte: »Eine kleine oder eine
große?«
Einen Moment zögerte Fritz, dann sagte er: »Eine große.«
Der Mann verschwand, und Fritz sagte mir, er habe zu arbeiten, und verschwand auch. Ich stand, für mein Gefühl ziemlich lange, an der Tür und wartete, bis der andere mit einer großen Salami kam.
»Warum hat es so lange gedauert?«, fragte ich.
Der Mann sagte, er habe Fritz die Salami gezeigt, um sicher zu gehen, dass es die richtige war. Gut präpariert, sie unbemerkt zur Kinderbaracke zu bringen, machte ich mich auf den Weg
»nach Hause«. Die Salami rutschte in den Socken meines Vaters, den ich unten an meine Tasche genäht hatte, und hing
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