Wir Kinder von Bergen-Belsen
worden. Lastwagen mit Holzbrettern waren angekommen und die Häftlinge mussten die Leichen stapeln. Von morgens früh bis spät am Abend arbeiteten sie unter der Aufsicht eines Kapo und einiger SS-Aufseher. Viele der Häftlinge starben an Erschöpfung und wurden dann einfach zusammen mit den anderen Leichen aufgestapelt.
Das Wetter war angenehm geworden, die Sonne schien über die nun schon vertraute Landschaft. An einem sonnigen Tag be-schloss ich, mir den Leichenberg näher anzuschauen, verließ die Baracke und überquerte die schmale Straße, die uns von diesem schrecklichen Schauplatz trennte. Während der Nacht waren viele Gefangene gestorben und frische Leichenhaufen lagen herum. Ich stieg über einige und schaute mich prüfend um, ob ich irgendeinen kannte, als ich aus dem Augenwinkel zwei Frauen sah, die auf das »Revier« zugingen.
Sie hielten sich aufrecht und schienen mir stark und gesund zu sein. Beide schauten mich nicht an, sondern setzten einfach ihren Weg fort. Dann bemerkte ich eine kleine, ältere Frau, die aus der Gegenrichtung heranschlurfte, ein Stück Brot in der Hand. Sie war erkennbar in einem schlechten Zustand und murmelte oder sang leise vor sich hin. Die beiden großen Frauen gingen an ihr vorbei, doch etwa zehn Schritte weiter drehten sie sich plötzlich um und liefen zu ihr zurück. Sie schlugen sie zu Boden, schnappten sich das Stück Brot und rannten davon.
Ich war entsetzt und stand wie festgenagelt da. Es war alles so schnell passiert. Die beiden Frauen waren bereits außer Sichtweite. Als ich mich wieder bewegen konnte, ging ich zu der alten Frau. Sie war tot und ihr Körper versperrte mir den Weg. Ich zögerte einen Moment, dann stieg ich vorsichtig über sie hinweg. Ich war noch immer entsetzt und beschloss, zur Latrine vor unserer Baracke zu gehen. Sie war nicht weit, ich konnte sie von hier aus sehen.
In der Latrine war es stockdunkel, denn es gab keine Fenster. Ich wartete, bis sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten und ging dann zum Ende des Gebäudes. Die Latrine war ziemlich neu und noch nicht so viel benutzt worden. Sie bestand aus Baumstämmen, auf die man sich setzen konnte, dahinter klaffte ein tiefes Loch im Boden. Die Tiefe war nicht zu schätzen, weil es nur das Licht gab, das durch den Eingang hereinfiel. Gerade hatte ich mich hingesetzt, als ich polnisch sprechende Stimmen näher kommen hörte. Der Eingang verdunkelte sich und zwei Gestalten traten ein. Zu meinem Schrecken erkannte ich die beiden, die die alte Frau wegen eines kleinen Stücks Brot niedergeschlagen hatten. Die Haare in meinem Nacken richteten sich auf, und mir wurde klar, in welcher Gefahr ich mich befand. Ich war immerhin die einzige Zeugin der Tat gewesen. Die Frauen kamen herein, ohne mich zu bemerken. Ich hielt die Luft an und bewegte mich nicht. Sie waren ganz offensichtlich in eine Unterhaltung vertieft.
Ich wartete darauf, dass sie sich auf den Baumstamm neben mir setzen würden, doch dann passierte etwas Seltsames. Keine der Frauen setzte sich hin, stattdessen hoben sie ihre Röcke und urinierten, aufrecht stehend, gegen die Wand. Als sie fertig waren, ließen sie ihre Röcke wieder fallen und verließen die Latrine. Ich seufzte erleichtert, weil sie mich nicht bemerkt hatten. Und erst dann erkannte ich, dass die Frauen eigentlich Männer waren, die verkleidet durch das Frauenlager liefen und ihre Körperkraft dazu nutzten, Essen zu stehlen. So schnell ich konnte, lief ich zum sicheren Kinderhaus zurück.
Weil ich schon viele Male mit Schwester Luba zur Küche gegangen war, kannte ich den Weg durch das Lager und die Prozedur, wie man durch die SS-Kontrolle kam. Eines Tages beschloss ich, allein zum Vorratslager zu gehen, um eine zusätzliche Ration für Max und Jackie aufzutreiben, da unsere Verpflegung immer schlechter wurde. Eine Gruppe von vielleicht zwanzig polnischen und ungarischen Kindern war vor einer Woche angekommen, weswegen unser Schlafraum jetzt völlig überfüllt war und wir auch weniger zu essen bekamen. Die SS dachte gar nicht daran, die Rationen zu erhöhen. In der Luft hing eine Vorahnung von Frühling, als ich mich auf den langen Weg machte.
Das Frauenlager war groß, und die Baracken waren nicht in einer geraden Linie nebeneinander gebaut worden, sondern standen in verschiedenen Winkeln auf einem mit Bäumen bewachsenen Areal. Es war nicht mit dem Sternlager zu vergleichen, wo die Baracken auf einem viel kleineren, völlig überfüllten Gelände eine
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