Wir Kinder von Bergen-Belsen
nun unsichtbar in meinem weiten Hosenbein.
Am Kontrollpunkt winkte ich dem SS-Offizier zu, und er winkte zurück, um mir zu bedeuten, dass ich passieren konnte. So weit, so gut. Als ich mich wieder dem Tor zum Frauenlager näherte, war niemand zu sehen und ich konnte ungehindert weitergehen. Bei den Baracken, wo ich Zeugin der grausamen Bestrafung der Frauen gewesen war, war es still und leer geworden.
Nun beeilte ich mich, denn es war inzwischen später Nachmittag und die Dämmerung brach ein. Ein grauer Nebel senkte sich auf das Lager, und obwohl ich die Straße noch deutlich erkennen konnte, verschwammen die Baracken langsam im Dunst. Ich wusste, dass ich noch an dem Leichenberg vorbeigehen musste, und außerdem lauerten noch andere Gefahren auf mich, falls jemand auch nur irgendwie merken würde, dass ich eine Salami bei mir trug. Menschen wurden für ein Stück Brot umgebracht. Also ging ich schneller, doch Atemnot zwang mich bald, wieder langsamer zu gehen.
Ganz ruhig, sagte ich mir. Wenn du rennst, kann dich jemand sehen und wissen, dass du Angst hast.
Mir war inzwischen klar, dass man in Bergen-Belsen nie zeigen durfte, dass man Angst hatte. Sonst war man in Gefahr, von einem Stärkeren beherrscht oder getötet zu werden. Deshalb zwang ich mich dazu, nicht zu rennen. Die unheimliche Stille des Leichenhauses zu meiner Linken zeigte mir, dass ich fast zu Hause war, und schon konnte ich das kleine Licht über dem Eingang sehen. Entgegen meinen guten Vorsätzen lief ich den letzten Teil des Weges dann doch zum sicheren Kinderhaus.
Als ich den Schlafraum betrat, waren alle Kinder schon drin. Wir hatten an diesem Tag unsere Abendration früher bekommen, und Max zeigte mir die Scheibe Brot, die auf meinem Kissen auf mich wartete. Das Kissen war zwar nicht sauber, denn ich hatte nun schon viele Monate darauf geschlafen, aber wen kümmerte es. Die jüngeren Kinder drängten sich um mich, sie waren immer froh, wenn sie mich sahen. Sie hängten sich an meine Arme und an meinen Mantel und so kam ich nur langsam zu meinem Bett am anderen Ende des Raums. Ich umarmte sie, küsste sie und sagte, sie sollten ganz brav sein, ich hätte nämlich etwas Besonderes für sie.
Zuletzt stieg ich hinauf auf mein Bett und holte die Salami aus meiner Tasche. Sie war tiefbraun vom Räuchern und roch köstlich. Ich versteckte sie hinter mir unter meiner Decke und aß mein Stück Brot. Jemand hatte mir einen Becher mit Wasser gefüllt. Als ich fertig war, rief ich Jackie und Max zu mir und zeigte ihnen die Wurst.
»Woher hast du sie?«, fragte Max.
»Von Fritz, vom Vorratslager«, sagte ich. »Bring ein Messer, bitte.«
Die Kinder hatten sich um mein Bett versammelt, alle wollten die wunderbare Salami sehen und ich sah die Sehnsucht ihren Augen an. Jemand gab mir ein Messer, und ich sagte den anderen, sie sollten sich in einer Reihe aufstellen. Dann zerschnitt ich die Salami und gab jedem Kind ein kleines Scheibchen, nur Jackie und Max bekamen ein größeres Stück, sie waren ja meine Brüder. Alle genossen die Salami, denn sie war mit Salz und Pfeffer gewürzt und das benötigten unsere Körper dringend. Wir hatten so lange kein Salz bekommen, dass sogar dieses kleine Stück Wurst uns stärkte.
Dankbar löste sich die Kindergruppe auf. Das letzte kleine Stück Wurst verbarg ich in meinem Regal, um es Max und Jackie am nächsten Tag zu geben.
Schwester Mala kam in den Schlafraum, um die Kleinen ins Bett zu bringen, bald würde das Licht ausgemacht. Wir legten uns ebenfalls hin. Schwester Mala hatte Nachtwache bei uns. Manchmal, wenn ich aufwachte, konnte ich sie mit einer anderen Frau zusammensitzen sehen und hörte, wie sie sich leise unterhielten.
Mitte März wurde uns gesagt, dass eine Delegation »des Roten Kreuzes« das Lager inspizieren wolle. Es war erstaunlich, wie sich die Dinge änderten. Unsere Baracke wurde gründlich geputzt. Schwester Luba organisierte weitere Helfer. Unsere gesamte Kleidung wurde von Schwester Hermina kontrolliert, Zosua und Helen, die sich tagsüber um den Schlafraum und die kranken Kinder kümmerten, unterstützten sie dabei. Ich half beim Kontrollieren und Sortieren der Kleider, die jedes Kind bei dieser Inspektion tragen sollte. Wenn Sachen geflickt werden mussten, brachte ich sie zu Schwester Hella und Maria, schmutzige Kleidungsstücke wurden gewaschen. Frau Stana, die Lagerälteste, hatte einen Boten mit strengen Anweisungen geschickt. Wir sollten sauber aussehen und einen glücklichen
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