Wir lassen sie verhungern
wurden. Jeden Tag tauchen Tausende neuer Familien nach Fußmärschen von hundert, manchmal hundertfünfzig Kilometern aus dem Morgennebel auf. In Dadaab dauert die Registrierung ungefähr vierzig Tage. Weil es an Funktionären fehlt. Es fehlt auch an konzentrierten Nahrungsmitteln (Kraftriegel, nährstoffreiche Kekse) und Infusionsbeuteln. Bei diesen Keksen handelt es sich um Mischungen aus Getreide, Soja, Bohnen und anderen Hülsenfrüchten, Ölpflanzen und Milchpulver, angereichert mit Mineralien und Vitaminen. Diese speziell für den WFP entwickelten Nahrungskonzentrate werden mit Wasser gemischt und wie Haferbrei verzehrt.
In den Lagern und der unmittelbaren Umgebung ringen viele Kinder mit dem Tod.
Tage und Nächte hindurch, oft wochenlang, marschieren die Familien, nachdem sie ihre von der Trockenheit zugrunde gerichteten Dörfer verlassen haben, durch die glühende Hitze und den dichten Staub der Steppe, um ein Lager zu erreichen. Viele sterben unterwegs. Mütter müssen die schwächsten Kinder zurücklassen. Am Rand der Pisten, in den Lagern, in provisorischen Unterkünften rund um die Lager sind schon Tausende von Menschen verhungert.
Anfang August 2011 waren nach Einschätzung von UNICEF 570000 Kinder unter zehn Jahren in dieser Region extrem unterernährt und unmittelbar vom Hungertod bedroht.
In ihrem Aufruf vom 18. August 2011 macht die UNICEF auch auf bleibende Gesundheitsschäden aufmerksam, die nach Berechnung der Organisation etwa 2,2 Millionen Kindern bevorstehen, die möglicherweise überleben, aber anschließend unter den Folgen der Unterernährung zu leiden haben werden. Erinnern wir uns, dass ein Kind, das in den ersten zwei Lebensjahren, einer entscheidenden Entwicklungsphase für seine Gehirnzellen, nicht angemessen ernährt wird, lebenslange Hirnschäden erleidet.
Sicherlich wäre es ungerecht, Frau Merkel oder den Herren Sarkozy, Zapatero, Berlusconi nebst den anderen Staatschefs, die 2008 entschieden haben, ihren Banken zu Lasten der für das WFP bestimmten Hilfszahlungen 1700 Milliarden Euro zukommen zu lassen, 178 irgendeinen Vorwurf zu machen.
Frau Merkel und Herr Sarkozy wurden gewählt, um die deutsche und französische Wirtschaft zu stützen und, gegebenenfalls, in Ordnung zu bringen. Sie wurden nicht gewählt, um den Hunger in der Welt zu bekämpfen. Schließlich zählen die vom Hunger dauerhaft geschädigten Kinder aus Chittagong, Oulan-Bator und Tegucigalpa nicht zu den Wählern. Sie sterben auch nicht auf den Champs-Élysées in Paris, dem Kurfürstendamm in Berlin oder der Plaza Major in Madrid.
Wirklich schuld an dieser Situation sind die Spekulanten – die Manager der Hedge Fonds, die noblen Großbankiers und andere Raubritter des globalisierten Finanzkapitals –, die aus Profitsucht und persönlichem Gewinnstreben, aber auch einer gehörigen Portion Zynismus das Weltfinanzsystem ruiniert und Vermögenswerte in Höhe von vielen Hundert Milliarden Euro vernichtet haben.
Dieses Raubgesindel müsste vor ein Tribunal für Verbrechen gegen die Menschlichkeit gestellt werden. Doch seine Macht – und die Schwäche der Staaten – ist so groß, dass es sich offenbar von keinerlei Risiko bedroht sieht.
Ganz im Gegenteil: Seit 2009 haben seine Akteure, als wäre nichts gewesen, ihre Aktivitäten fröhlich wieder aufgenommen, kaum behindert durch ein paar schüchterne neue Normen, die der Basler Ausschuss erlassen hat, diese von den Zentralbanken der reichen Länder eingesetzte Koordinierungsinstanz: erhöhte Eigenkapitalquote, etwas verstärkte Kontrolle der Finanzderivate etc. Zu den Vergütungen und Boni der Banker hat der Basler Ausschuss überhaupt keine Entscheidung getroffen. So hat Brady Dougan, der Vorstandsvorsitzende der Crédit Suisse, 2010 einen persönlichen Bonus in der bescheidenen Höhe von 71 Millionen Schweizer Franken (65 Millionen Euro) eingesackt.
178 Vgl. »When feeding the hungry is political«, The Economist , 20. März 2010.
3
Die neue Selektion
In dem bescheidenen Gebäude des WFP in Rom gibt es zwei Säle, in denen täglich über das Schicksal – oder genauer, über Leben und Tod – von Hunderttausenden Menschen entschieden wird.
Im ersten dieser Säle, dem »Lagezentrum« ( situation room ) befindet sich die Datenbank der Organisation.
Das besondere Vermögen des WFP liegt in seiner Fähigkeit, rasch auf Katastrophen zu reagieren und in kürzester Zeit die Schiffe, Lastwagen oder Flugzeuge zu mobilisieren, die erforderlich sind, um den
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