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Wir lassen sie verhungern

Wir lassen sie verhungern

Titel: Wir lassen sie verhungern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ziegler Jean
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Flusses.
    Alle Völker des riesigen »Lands der tausend Flüsse«, wie die Bangladescher ihre prachtvolle Heimat nennen, sind dort versammelt: Tausende von Familien, die aus Jamalpur geflohen sind, wo der Monsun ein Jahr zuvor mehr als 12000 Todesopfer gefordert hatte; Familien der Shaotal, Dhangor, Oxâo, die aus den Mangrovenwäldern stammen; Angehörige der animistischen »Stämme«, der ärmsten – und von den Muslimen am tiefsten verachteten – Bevölkerungsgruppe.
    In Golshan leben auch Hunderttausende Angehörige des städtischen Lumpenproletariats, Menschen, die dauerarbeitslos sind oder gerade von einem der riesigen Zulieferbetriebe der Textilindustrie entlassen wurden.
    In dem Slum mischen sich alle Religionen: Muslime, die bei weitem in der Mehrzahl sind, Hindus aus dem Norden, Katholiken, zahlreiche Stämme, die einst animistisch waren, aber während der Kolonisation von europäischen Missionaren »bekehrt« wurden.
    Ich bat, einige Hütten besichtigen zu dürfen. Waliur rief die Gemeindevertreterin herbei, die für das Viertel verantwortlich war.
    Nur wenige Behausungen besaßen Türen. Vor dem Eingang hing ein einfacher farbiger Vorhang. Die Gemeindevertreterin hob den Vorhang.
    In dem von einer Kerze kaum erhellten Raum entdeckte ich eine junge Frau in einem abgetragenen Sari, die auf dem einzigen Bett saß, und vier Kinder. Sie waren mager und blass. Ihre großen schwarzen Augen starrten uns an. Sie sprachen nicht und bewegten sich nicht. Nur die junge Mutter deutete ein schüchternes Lächeln an.
    Sie hieß Jalil Jilani. Ihre Kinder waren zwei, vier, fünf und sechs Jahre alt. Zwei Mädchen, zwei Jungen. Ihr Mann – ein Rikschafahrer – war einige Monate zuvor an Tuberkulose gestorben.
    Bangladesch ist eines der wichtigsten Länder Süd- und Südostasiens, wo die multinationalen Textilkonzerne des Westens hauptsächlich von Frauen – in sogenannten »Freien Produktionszonen« – ihre Bluejeans, Sporthemden, Anzüge etc. fertigen lassen. Die Produktionskosten sind unschlagbar niedrig. Größtenteils gehören die Zulieferbetriebe Südkoreanern oder Taiwanesen.
    Die Freien Produktionszonen nehmen fast den gesamten südlichen Vorortgürtel Dhakas ein, wo sich riesige sieben- bis zehnstöckige Betonbauten drängen.
    Dort gibt es keine Hygienevorschriften, keine gesetzlichen Lohnregelungen. Gewerkschaften sind verboten. Eingestellt und entlassen wird je nach den Aufträgen, die aus New York, London, Hongkong oder Paris kommen.
    Jalil arbeitete als Näherin bei dem Unternehmen Spectrum Sweater in Savar bei Dhaka. Mehr als 5000 Menschen, davon 90 Prozent Frauen, waren dort damit beschäftigt, für bekannte amerikanische, europäische und australische Hersteller T-Shirts, Trainingshosen, Jeans zuzuschneiden, zu nähen und zu verpacken.
    Der gesetzliche monatliche Mindestlohn in der Stadt beträgt 930 Taka. Spectrum Sweater zahlte seinen Arbeitern und Arbeiterinnen 700 Taka im Monat, etwa 12 Euro. 179
    Die Clean-Cloth Campaign , die Kampagne zugunsten angemessener Arbeitsbedingungen in der Textilindustrie auf Betreiben einer Koalition von Schweizer NGOs, hat folgende Rechnung aufgemacht: Eine Jeans von Spectrum Sweater wird in Genf für 66 Schweizer Franken – rund 57 Euro – verkauft. Von dieser Summe erhält die Näherin ungefähr 25 Eurocent 180 .
    In der Nacht von Sonntag, dem 10. April, auf Montag, den 11. April 2005, ist der neunstöckige Stahlbetonbau von Spectrum Sweater in sich zusammengestürzt. Die Ursache: Konstruktionsfehler sowie mangelnde Instandhaltung und Sicherheitskontrolle. 181
    Nun wird aber in den Fabriken der Freien Produktionszonen 24 Stunden am Tag gearbeitet. Daher waren im Augenblick der Katastrophe alle Arbeitsplätze besetzt. Bei seinem Einsturz hat das Gebäude Hunderte von Arbeitern mit sich gerissen und unter seinen Trümmern begraben.
    Die Regierung hatte sich geweigert, genaue Opferzahlen zu nennen. Spectrum Sweater hatte alle Überlebenden entlassen. Ohne eine Abfindung zu zahlen.
    Die extreme Unterernährung von Jalil Jilani und ihren Kindern war nicht zu übersehen.
    Ich wandte mich Muammar Murshid zu. Er schüttelte den Kopf. Nein, die junge Mutter und ihre Kinder standen nicht auf der Liste der WFP-Bezugsberechtigten.
    Der Grund? Er war unwiderruflich: Jalil war erst im April entlassen worden.
    Murshid war sehr unglücklich. Er war der WFP-Vertreter in Bangladesch und deshalb gezwungen, die Anweisungen aus Rom auszuführen. Jalil Jilani hatte im laufenden Jahr

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