Wir lassen sie verhungern
Personengruppen, die das Pech haben, nicht in die Kategorie der »extrem Gefährdeten« zu fallen, aber trotzdem von schwerer Unterernährung – und damit einem baldigen, wenn auch etwas hinausgeschobenen Tod – bedroht sind.
Joyce Luma, eine Frau, die unendlich viel Menschlichkeit und Mitgefühl ausstrahlt, entscheidet, wer leben wird und wer sterben wird. Folglich nimmt sie eine auf ganz andere Weise ähnlich grausige Selektion vor, wenn auch – und das verbietet jeden Vergleich mit dem Nazi-Gräuel – im Namen einer dem WFP aufgezwungenen Notwendigkeit.
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Jalil Jilani und ihre Kinder
Bangladesch ist ein riesiges grünes Flussdelta, das 143000 Quadratkilometer umfasst und von 160 Millionen Menschen bewohnt wird. Es ist das am dichtesten bevölkerte Land der Erde. Zurückhaltend, freundlich, ständig in Bewegung, scheinen die Bangladescher immer präsent zu sein. Vor meiner ersten Mission informierte mich Ali Tufik Ali, der feinsinnige Botschafter Bangladeschs in Genf: »Sie werden niemals allein sein, überall werden Sie im dichten Gedränge der Menschen stehen.«
Und tatsächlich, egal, wohin ich fuhr, nach Norden oder Süden, nach Jessore oder Jamalpur, in die Mangrovensümpfe am Golf von Bengalen, überall sah ich mich umgeben von lächelnden Männern, Frauen und Kindern in oft abgetragener, aber makellos sauberer und gebügelter Kleidung.
Doch Bangladesch ist auch eines der korruptesten Länder der Welt. Während meiner ganzen Amtszeit als Sonderberichterstatter hat man nur einmal versucht, mich zu bestechen – 2005 in Dhaka. In Begleitung von Christophe Golay und meinen Mitarbeiterinnen Sally-Anne Way und Dutima Bagwali, zwei hochkompetenten und eleganten jungen Frauen, saß ich dem Außenminister und seinem Parlamentssekretär im Prunksalon des Ministeriums gegenüber.
Seit mindestens einer Stunde versuchte ich, dem Minister, einem dicken Mann mit unstetem Blick, der zu den wichtigsten Textilmagnaten des Landes gehörte und trotz der an der Decke angebrachten Ventilatoren in Schweiß gebadet war, etwas über die riesigen Garnelenzuchtbetriebe zu entlocken, die indische Konzerne in den Mangrovensümpfen am Rande des Golfs hatten anlegen dürfen.
Die Fischer hatten sich bei mir beklagt. Ihr Fischereigewerbe werde ruiniert, da die indischen Garnelenzuchtanlagen ihnen auf Hunderte von Kilometern den Zugang zur Küste blockierten.
Offenkundig wurde hier das Recht auf Nahrung der bangladescher Fischer von ihrer eigenen Regierung eklatant verletzt. Ich verlangte von dem Minister eine Kopie der zwischen seiner Regierung und den beteiligten indischen multinationalen Konzernen geschlossenen Verträge.
Ich stieß auf eine Mauer der Ablehnung. Statt auf meine Fragen zu antworten verlegte sich der Minister darauf, meine beiden jungen, hübschen Kolleginnen – höchst ungeschickt – zu charmieren, die davon beide offenkundig genervt waren.
Unvermittelt setzte der Minister ein honigsüßes Lächeln auf. »Mein Unternehmen veranstaltet für seine internationale Klientel Konferenzen auf höchstem Niveau. Dazu lade ich Wissenschaftler und Akademiker aus der ganzen Welt ein, vor allem aus den Vereinigten Staaten und Europa. Unsere Kunden wissen das sehr zu schätzen. Unsere Vortragsredner auch. Wir zahlen ansehnliche Honorare … Haben Sie in Ihrem Terminkalender noch etwas frei? Ich würde Sie sehr gerne einladen.«
Dutima, eine junge, höchst temperamentvolle Guayanerin, war bereits aufgesprungen. Auch Sally-Anne und Christophe machten Anstalten, die Tür zuzuknallen.
Ich hielt sie zurück.
Der Parlamentssekretär lächelte beflissen.
Ich beendete meine Unterhaltung mit dem Minister, der nicht wusste, wie ihm geschah, höchst unvermittelt und verabschiedete mich.
Dhaka … In der feuchten Hitze klebt die Kleidung am Körper. Dhaka zählt heute 15 Millionen Einwohner, gegenüber 500000 im Jahr 1950. Im Ministerium für Internationale Kooperation war ich mit dem Staatssekretär Waliur Rahman verabredet. Als junger Student war er 1971, während des Befreiungskriegs von Bangladesch (damals Ostpakistan) gegen die Streitkräfte der Besatzungsmacht Pakistan, Gesandter von Mujibur Rahman, dem Führer der bengalischen Befreiungsbewegung, in Genf gewesen.
Muammar Murshid und Rane Saravanamuttu vom örtlichen WFP-Büro, hatten sich Waliur und mir für einen Besuch des Elendsviertels Golshan angeschlossen. Dort leben 800000 Menschen auf engstem Raum in Behausungen aus Wellblech und Brettern am Ufer des schlammigen
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