Wir lassen sie verhungern
Opfern die Lebensmittel und das Wasser zur Verfügung zu stellen, die für ihr Überleben unentbehrlich sind. Die durchschnittliche Reaktionszeit des WFP beträgt 48 Stunden.
Die Wände des »Lagezentrums« sind mit riesigen Karten und Leinwänden drapiert. Auf den langen schwarzen Tischen häufen sich Wetterkarten, Satellitenfotos und dergleichen.
Dort werden weltweit und täglich alle Ernten überwacht. Man kontrolliert, untersucht und analysiert die Bewegungen von Heuschrecken, die Seefrachttarife, die Kurse von Reis, Mais, Palmöl, Hirse, Weizen und Gerste am Chicago Commodity Stock Exchange sowie den anderen Agrarrohstoffbörsen der Welt und viele andere Wirtschaftsvariablen.
Zwischen Vietnam und dem Hafen von Dakar beispielsweise bleibt der Reis sechs Wochen auf See. Da spielt die Entwicklung der Frachtpreise eine entscheidende Rolle. Die vorhersehbaren Preisschwankungen für das Barrel Erdöl sind ein weiterer Faktor, der von den Ökonomen und Fachleuten für Versicherungs- und Transportwesen im »Lagezentrum« des WFP aufmerksam verfolgt wird.
Diese Spezialisten sind äußerst kompetent und in der Lage, alle notwendigen Informationen beim geringsten Alarmzeichen zu liefern.
Das zweite strategische Zentrum des WFP-Hauptquartiers in Rom ist die für Gefährdungsanalysen und Risikoeinschätzungen zuständige Vulnerability Analysis and Mapping Unit (VAM) – ein Saal, der auf den ersten Blick weit weniger beeindruckend und bei weitem nicht mit so vielen Fachleuten bevölkert ist. Gegenwärtig wird das Zentrum von Joyce Luma, einer sehr energischen und klugen Frau, geleitet. Dort werden die detaillierten Erhebungen vorbereitet, die auf allen fünf Kontinenten die Risikogruppen bestimmen.
In gewisser Weise besteht Joyce Lumas Aufgabe darin, eine Hierarchie der Not aufzustellen.
Sie kooperiert mit all den anderen Organisationen der Vereinten Nationen, mit NGOs, Kirchen, den Gesundheitsministerien und Sozialeinrichtungen der betroffenen Staaten und vor allem den Regionaldirektoren und örtlichen Vertretern des WFP.
In Kambodscha, Peru, Bangladesch, Malawi, im Tschad, in Sri Lanka, Nicaragua, Pakistan, Laos etc. beauftragt sie die NGOs vor Ort mit Feldstudien. Mit detaillierten Fragebögen ausgerüstet gehen die Interviewer (meist Interviewerinnen) von Dorf zu Dorf, von Elendsviertel zu Elendsviertel, von Siedlung zu Siedlung und fragen Familienoberhäupter, Alleinstehende, alleinerziehende Mütter nach ihren Einkünften, ihrer Beschäftigung, ihrer Ernährungssituation, Krankheiten in der Familie, Wassermangel und so fort.
Im Allgemeinen umfassen die Bögen zwischen 30 und 50 Fragen, die alle in Rom entwickelt wurden.
Die ausgefüllten Fragebögen kommen nach Rom zurück und werden von Joyce Luma und ihrem Team ausgewertet.
Elie Wiesel ist sicherlich einer der bedeutendsten Schriftsteller unserer Zeit. Er ist ein Überlebender der Lager Auschwitz-Birkenau und Buchenwald. Er hat mit besonderer Klarheit den fast unüberwindlichen Widerspruch gezeigt, der jedem Diskurs über die Vernichtungslager innewohnt. Einerseits stellen die Nazi-Lager ein so ungeheures Verbrechen dar, dass sie sich letztlich der Sprache verweigern: Von Auschwitz zu sprechen heißt, das Unaussprechliche zu banalisieren. Doch andererseits haben wir auch die Pflicht der Erinnerung: Alles, selbst das ungeheuerlichste Verbrechen, kann sich jederzeit wiederholen. Daher müssen wir darüber sprechen und die Generationen, die das Unaussprechliche nicht erlebt haben, vor dem Rückfall warnen.
Im Zentrum der Nazi-Gräuel war die Selektion. Die Rampe in Auschwitz war der Ort, wo sich im Handumdrehen das Schicksal jedes Neuankömmlings entschied: nach links diejenigen, die für den Tod bestimmt waren, nach rechts diejenigen, die auf unbestimmte Zeit als Arbeitssklaven am Leben bleiben durften.
Die Selektion ist auch ein zentraler Aspekt von Joyce Lumas Aufgabe. Da die Mittel des WFP diesen enormen Einbruch erlitten haben und die verfügbare Nahrung seither nicht mehr für die Millionen Hände ausreicht, die sich nach ihr ausstrecken, muss eine Auswahl getroffen werden.
Joyce Luma bemüht sich um Gerechtigkeit. Mit allen technischen Mitteln, die der weltweit größten humanitären Organisation zur Verfügung stehen, versucht sie, in jedem der vom Hunger heimgesuchten Länder die am stärksten betroffenen, am meisten gefährdeten, von der Vernichtung am unmittelbarsten bedrohten Menschen zu ermitteln. Übrig bleiben die Personen oder
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