Wir müssen leider draußen bleiben
steht ein Karton mit gerade noch frischen Schnittblumen. Hinter den Tischen stehen Männer und Frauen mittleren Alters, sie tragen blaue Schürzen mit weißen Blümchen und lächeln in die ersten Frühlingssonnenstrahlen. Auf den ersten Blick könnte man glauben, es handle sich um einen Wochenmarkt – wäre da nicht diese lange Schlange von Menschen, denen man ansieht, dass sie hier nicht freiwillig stehen: Rentner in abgetragenen Mänteln, Menschen mit Gehwagen oder Krücken, Migranten, Frauen mit klapperigen Kinderwagen und Trolleys, die Köpfe gebeugt, die Blicke müde, bepackt mit Taschen und abgewetzten Einkaufstüten, die noch übrig geblieben sind aus jener Zeit, als ein Einkauf im Supermarkt oder Discounter zum normalen Alltag gehörte. Es ist eine von 24 Ausgabestellen der Münchner Tafel, die insgesamt rund 18 000 Bedürftige versorgt. 47 877 Tafeln gibt es in ganz Deutschland; mehr als eine Million Menschen holen sich an den 2 000 Ausgabestellen einmal die Woche Essen ab. 48
Das Prinzip der Tafeln, die sich laut ihrem Bundesverband als die »größte soziale Bewegung aller Zeiten« 49 feiern, ist so einfach wie faszinierend: Ehrenamtliche sammeln in Supermärkten, bei Discountern und bei Großhändlern Leben smittel ein, die zwar noch verzehrfähig sind, aber nicht mehr verkauft werden. Meist sind das schnell verderbliche Waren wie Obst, Gemüse und Milchprodukte kurz vor oder nach dem Ablaufdatum. Dieser Überschuss, der sonst vernichtet würde, wird an Bedürftige verteilt, deren Geld nicht einmal dafür ausreicht, sich vernünftig zu ernähren.
Almosen statt Umverteilung
Die Idee stammt aus den USA : Anfang der sechziger Jahre ent standen dort die ersten Foodbanks . 1993 gründete sich nach diesem Vorbild die erste Tafel in Berlin, 1994 folgte München. Heute haben fast drei Viertel der deutschen Gemeinden mit mehr als 10 000 Einwohnern eine eigene Tafel. 50 Denn was einst als Nothilfe für Menschen gedacht war, die aus allen sozialen Netzen gefallen waren, etwa Obdachlose und Drogenkranke, ist heute zu einem Versorgungssystem für Bürger geworden, die durch die Arbeitsmarktreform so tief in die Armut gerutscht sind, dass sie auf Lebensmittelspenden angewiesen sind: Zwischen 2003 und 2009 hat sich die Anzahl der Tafeln in Deutschland verdreifacht. Ein sprunghafter Anstieg war 2005 zu verzeichnen, dem Jahr, in dem die sogenannten Hartz-Gesetze in Kraft traten. 51
Elisabeth Müller stellt Anhänger und Trolley, dessen Griff mit braunem Paketklebeband geflickt ist, auf der Wiese im Hof ab. Mit einer Bewegung, zu hastig, um gelassen zu wirken, holt die schmale, blasse Frau einen laminierten Zettel aus der Tasche ihres ausgewaschenen Anoraks, hängt sich den Berechtigungsausweis um den Hals und macht das, was die Gesellschaft von Menschen wie ihr erwartet: Sie stellt sich hinten an.
Eine kleine, rundliche Frau mit neonfarbener Pannenweste, die mit einem Klemmbrett die Schlange abschreitet, zeichnet die Anwesenden anhand der Nummern auf den Ausweisen ab. Einen Platz an der Tafel bekommt, wer Bedürftigkeit nachweisen kann. Bedürftig ist, wer auf Hartz IV oder die sogenannte Grundsicherung angewiesen ist: Diese beziehen Menschen, die nach lebenslanger Arbeit so wenig Rente erhalten, dass es kaum zum Überleben reicht. Auf den Ausweisen stehen Ablaufdatum und die Anzahl der Personen im Haushalt, die versorgt werden müssen. Je höher die Zahl auf dem Ausweis, desto mehr Lebensmittel kommen in die Tüte.
Auf Elisabeth Müllers Ausweis steht: 1 plus 5. Die 46-Jährige ist alleinerziehende Mutter von sechs Kindern, die älteste Tochter ist 22 und schon ausgezogen, der Jüngste ist drei Jahre alt. Die Müllers leben von Hartz IV, »seit mein Mann beschlos sen hat, den Karren an die Wand zu fahren«. Sechs Kinder. Alleinerziehend. Hartz IV. Klingt wie das Klischee, das die Privatfernsehsender von kinderreichen Unterschichtmüttern verbreiten. In Wahrheit glich das Leben von Elisabeth Müller einst eher dem der ersten Schirmherrin der Tafel, Exfamilienministerin Ursula von der Leyen: Elisabeth Müller hat Medizin studiert, sie ist ausgebildete Ärztin. Zwanzig Jahre hat sie als Veranstalterin für medizinische Kongresse gearbeitet und gut verdient. Jetzt zahlt ihr Mann keinen Unterhalt; um sich um die Kinder kümmern zu können, musste Müller ihren Beruf aufgeben. Es war der Beginn einer Armutskarriere, wie sie die meisten Alleinerziehenden hinter sich haben, die auf das Angebot der Tafeln angewiesen sind.
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