Wir müssen leider draußen bleiben
41 Prozent der Alleinerziehenden in Deutschland sind Hartz-IV-Empfänger, die meisten davon Frauen. 52 »Wir Frauen stehen für alles gerade, und irgendwann stehen wir hier«, sagt Müller bitter; sie kämpft seit drei Jahren für Unterhalt. Als ihr Mann sie verließ, war sie zum sechsten Mal schwanger. Und es dauerte nicht lange, bis sie verzweifelt beim Jugendamt saß, weil sie nicht mehr wusste, wie sie die Miete bezahlen sollte. Seither ist die Familie auf Hilfe angewiesen, unter anderem auf Lebensmittelspenden der Tafel.
»Wie oft bin ich montags hier vorbeigeradelt und habe mir gedacht: Hoffentlich komm ich niemals so auf den Hund, dass ich hier anstehen muss«, sagt Müller. Ihre Tante, die selbst bei der Tafel Essen holt, hat sie schließlich dazu überredet. »Dummheit und Stolz wachsen auf einem Holz«, habe sie damals gesagt. Heute sei sie froh, ihren Stolz überwunden zu haben. »Ich bin wirklich dankbar für dieses Angebot. Denn ohne kämen wir nicht über die Runden.«
»Hallo, Frau Müller, wie geht es Ihnen? Was darf ich Ihnen heute geben? Blumenkohl? Brokkoli? Rosenkohl hätten wir auch«, sagt Christian Liebich, der seit vier Jahren ehrenamtlich bei der Tafel arbeitet und die Tüten der Bedürftigen füllt. Müller lächelt tapfer: »Danke, geht schon, nehm ich gern alles, wenn es geht«, die Schlange schiebt sich weiter. Die meisten Ehrenamtlichen versuchen, den Bedürftigen nicht das Gefühl zu geben, sie müssten um Essen betteln. Rund acht Ehrenamtliche sind pro Tafel mit Aufbau und Essensausgabe beschäftigt, fast einen Arbeitstag lang, gute sechs Stunden, dauert das. Deswegen engagieren sich dort vor allem Rentner, Hausfrauen und auch Bedürftige, die selbst die Tafel nutzen. »Wir sind wie eine Familie«, sagt Liebich, der jeden Montag an der Ausgabestelle verbringt und die Arbeit mit den Ehrenamtlichen als bereichernd empfindet. Bei Sonne, Regen und Schnee baut er Tische auf, sortiert welken Salat aus und teilt mit seinem Messer Blumenkohl und Brokkoli, um das Gemüse so gerecht wie möglich verschenken zu können. Es wirkt manchmal etwas pathetisch, wenn Liebich die Arme gen Himmel hebt und sagt: »Ich möchte den Menschen zeigen: Ich bin für dich da. Du bist es wert, dass ich für dich hier stehe.« Liebich hat lange bei einem großen Autohersteller im Marketing gearbeitet, vor ein paar Jahren aber gekündigt und sich als Lebensberater selbstständig gemacht. Die ehrenamtliche Arbeit bei der Tafel, sagt Liebich – und wie er betonen das fast alle Tafelmitarbeiter, Politiker und auch der Tafelbundesverband –, sei »gelebte Solidarität«. Es gehe ja gar nicht ums Essen, fährt Liebich fort, die Lebensmittel seien »nur ein Träger«, sie stifteten zwische nmenschliche Beziehungen.
Für die Tafelnutzer allerdings sind die Lebensmittel nicht vordergründig Symbol der Nächstenliebe und Solidarität. Sie sind gezwungen, dort Essen zu holen, weil sie sonst nicht mehr über die Runden kämen. Das wiederum sagen fast alle Nutzer der Tafel. Aber stehen mag dort niemand. Armut ist ein Stigma, das auch die Tafeln nicht löschen können, ganz im Gegenteil: Die Bilder der Warteschlangen vor Essensausgaben sind zum Symbol geworden für eine Wohlstandsgesellschaft, die es sich leistet, einer zunehmenden Anzahl Bedürftiger allenfalls ihre Brosamen zukommen zu lassen, ihnen aber echte Teilhabe verweigert.
Es ist die hässliche Realität des sogenannten »Trickle- down-Effekts«, den die Apologeten eines Wirtschaftswachstums propagieren, das darauf basiert, dass sich der Staat aus den ökonomischen Prozessen heraushält. Diese extrem liberale Wirtschaftstheorie besagt, dass die Wohlstandsmehrung der Reichen nach und nach in die unteren Schichten der Gesellschaft durchsickere. Armutsbekämpfung durch Reichenförde rung: Diese wohl dreisteste Rechtfertigung der Vermehrung von Privatvermögen ist mittlerweile leider – mehr oder weniger verdeckt – wesentlicher Teil der Regierungsprogramme der westlichen Welt. Von Kritikern wird sie anschaulicher als »Pferdeäpfeltheorie« beschrieben: Wenn man den Spatzen Gutes tun wolle, dann müsse man den Pferden den allerbesten Hafer füttern, damit die Spatzen aus der Scheiße ein paar Körner picken können.
Ihren kleineren Kindern sagt Elisabeth Müller deshalb, dass Montag »der Einkaufstag« sei. Seit sie in einer Fotogeschich te in einem Stadtmagazin erzählt habe, dass sie Essen bei der Tafel hole, seien ihre Kinder im Kindergarten und in der Schule
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