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Wir müssen leider draußen bleiben

Wir müssen leider draußen bleiben

Titel: Wir müssen leider draußen bleiben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Hartmann
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ausgelacht worden: Igitt, dein Pausenbrot ist ja vom Müll!
    20 Prozent der Kinder unter 15 Jahren in Deutschland leben in Hartz-IV-Familien – in Berlin sind es sogar 35,7 Pro zent. 53 Bei 15 bis 40 Prozent derjenigen, die auf Lebensmittelspenden der Tafeln angewiesen sind, handelt es sich um Kinder und Jugendliche. 54 2,62 Euro sieht der Hartz-IV-Regelsatz täglich für Ernährung von Kindern bis sechs Jahre vor; 3,21 Euro für Kinder bis 14, 3,52 Euro für Teenager. 55 Dass es unmöglich ist, Kinder und Jugendliche mit einem solchen Budget gesund zu ernähren, stellte Mathilde Kersting vom Forschungsinstitut für Kinderernährung (FKE) bereits vor vier Jahren fest: Wer einen Teenager von 15 Jahren halbwegs gesund ernähren will, muss selbst im Discounter 4,68 Euro und im Supermarkt 7,44 Euro am Tag ausgeben. 56 Da helfen auch die autoritären und selbstgefälligen Belehrungen der Wohlhabenden nichts: »Nicht die Armut ist das Hauptproblem der Unterschicht, sondern der massenhafte Konsum von Fastfood und TV«, gibt der neokonservative Historiker Paul Nolte und Uniprofessor vor zu wis sen: »Das große Fressen« lautete bereits 2003 die reichlich zynische Überschrift seines Essays über die »kulturellen Wurzeln der Verwahrlosung« in der Wochenzeitung Die Zeit : »Sich gut und vernünftig zu ernähren, hört man dann, sei eben teurer – womit man wieder bei den materiellen Verhältnissen und damit bei der Forderung nach Umverteilung wäre. Das ist jedoch eine Legende. Jede zu Hause zubereitete Mahlzeit aus Kartoffeln und Gemüse, aus Vollkornbrot und Käse ist billiger zu haben als die Dauerernährung in Imbissbude und Schnellrestaurant, die vielen Kindern der Unterschichten zugemutet wird – wohlgemerkt: nicht von den Konzernen, sondern von ihren eigenen Eltern.« 57
    Überschuss für die Überflüssigen
    Elisabeth Müllers Taschen sind gut gefüllt mit Gemüse und Brot. Mit dem Käsebrot wird es diesmal trotzdem nichts, Milchprodukte gab es heute leider keine. »Dann muss es diese Woche mal ohne gehen«, murmelt sie. Es ist Monatsende, das Geld wird nicht reichen für den Einkauf im Supermarkt. Am liebsten, sagt Elisabeth Müller, würde sie sich und die Kinder mit Biolebensmitteln ernähren. Sie sagt das so, wie andere von einem Sportwagen schwärmen, den sie sich nie werden leisten können.
    Dann geht die 46-Jährige in den Gemeindesaal und stellt sich an der Essensausgabe an. In einigen Ausgabestellen der Münchner Tafel gibt es kostenloses Mittagessen, solange der Vorrat reicht. Meist wird es von Firmenkantinen geliefert, man che Firmen lassen extra für die Tafel kochen. Zum Beispiel die Bayern Bankett Gastronomie, eine hundertprozentige Tochter der Bayerischen Landesbank, die der Staat mit 30 Milliarden Euro Steuergeldern gerettet hat. 58 Jetzt sponsert sie für mehrere tausend Euro im Monat und unter großem Beifall der Gesellschaft Suppenküchen für diejenigen, die vom Staat kaum etwas zu erwarten haben.
    Heute gibt es Fisch mit Spinat. »Sehr gut schmeckt das«, finden Frau Müller und ihre Tante; sie essen langsam, je später der Nachmittag, desto kleiner die Portionen. Eine alte Dame scheint weniger begeistert, sie schmeißt den fast vollen Plastikteller nach ein paar Bissen in den Müll.
    Ein alltäglicher Vorgang, an dem sich in den Restaurants, Kantinen und an den häuslichen Esstischen der westlichen Wohlstandsgesellschaften keiner mehr stört. Nach einer im Mai 2011 veröffentlichten Untersuchung der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen, FAO, landet ein Drittel der weltweit hergestellten Nahrungsmittel im Müll. 59 Essen wegzuwerfen ist das Privileg vollwertiger Mitglieder der Konsumgesellschaft. »Das konsumistische Wirtschaftssystem lebt vom Warenumsatz; es boomt, wenn mehr Geld den Besitzer wechselt, und wann immer Geld den Besitzer wechselt, wandern einige Konsumgüter in den Müll«, schreibt der Soziologe Zygmunt Bauman in seinem Buch Leben als Konsum . 60 Er beschreibt den Konsumismus als »Ökonomie des Überschusses und des Abfalls«. 61 Mit anderen Worten: Essen und andere Dinge wegzuwerfen ist die Grundlage der Konsumgesellschaft: Nur wenn viel entsorgt wird, wird auch viel gekauft. Doch hier im kargen, dunklen Vorraum des Gemeindezentrums geht ein entsetztes Raunen durch die Reihen der Tafelnutzer, die gerade noch ein Restchen Essen ergattert haben. In parallelen Konsumwelten wie der Tafel, in der nur der Überschuss verteilt wird, sind nicht nur die

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